Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Iranerin, schon, auf wen hier Verlaß war!
Sie zog den Koran hervor und blätterte darin herum, las hier und da ein wenig, fand aber weder Trost noch Rat. Nach zwei Stunden schlief sie ein, und sie erwachte erst, als ihr Magen sie daran erinnerte, daß sie seit zwei Tagen kaum etwas gegessen hatte.
Der Chef war, wie erwartet, stocksauer. Sie entschuldigte sich und versprach ihm eine Krankschreibung. Wo immer sie die auch hernehmen sollte. Vom Notdienst vielleicht. Bei der Stelle, die sich um Vergewaltigungsopfer kümmerte, waren alle sehr nett und zuvorkommend gewesen, als sie am vergangenen Sonntag zu dieser schrecklich demütigenden Untersuchung dort erschienen war. Und doch scheute sie davor zurück, dort um die Krankschreibung zu bitten. Na ja, mit diesem Problem würde sie sich später befassen. Abweisend murmelte der Chef einige mißmutige Sprüche über die heutige Jugend. Sie wollte sich aber nicht provozieren lassen. Bisher war sie nie krank gewesen.
»Kristine!«
Freudestrahlend packte einer der Festen sie am Arm. Unbegreiflicherweise war er schon einundachtzig. Unbegreiflich war das, da er im Krieg fünf Jahre zur See gefahren war und die nächsten fünfzig als Alkoholiker verbracht hatte. Aber er hielt durch wie in einem halsstarrigen Protest gegen das Ausbleiben jeglicher Anerkennung, das er und seine längst verstorbenen Kameraden in ihrem Land erfahren hatten.
»Kristine, meine Süße!«
Nach einer Viertelstunde konnte sie sich losreißen. Sie war nicht aus Zufall gerade jetzt gekommen. Um diese Zeit war Wachablösung, und sie konnte sich ungesehen an den Medizinschrank im Lagerraum schleichen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die Tür abzuschließen. Dann überlegte sie sich, daß eine verschlossene Tür schwerer zu erklären sein würde als eine offene. Obwohl sie hier nichts zu suchen hatte, würde ihr bestimmt irgendeine plausible Erklärung einfallen. Sie fischte die Schlüssel aus dem Medizinschrank. Die klapperten ein wenig zu laut, und sie schloß erschrocken die Faust um das Schlüsselbund. Was für ein Quatsch! Bei dem Krach draußen im Flur bestand wohl kaum die Chance, von irgend jemandem gehört zu werden. Und das, was sie vorhatte, brauchte auch nicht viel Zeit.
Die vielen Nozinanpackungen standen direkt vor ihr. Plötzlich wußte sie nicht, ob sie Injektionsflüssigkeit oder Tabletten nehmen sollte. Ohne sich das weiter zu überlegen, griff sie zu ersterem. Spritzen brauchte sie nicht. Die hatten sie zu Hause. Blitzschnell schloß sie den Schrank wieder ab und schlich sich zur Tür. Sie hielt dreißig Sekunden lang den Atem an und stopfte die Medizin in die Tasche, dann ging sie ruhig hinaus. Auf dem Gang standen nur zwei Klienten, und die waren so voll, daß sie wohl kaum wußten, welcher Tag gerade war.
Unterwegs mußte sie den Chef noch einmal mit der Versicherung beruhigen, daß die Krankschreibung bald vorliegen werde und daß sie, ja, bestimmt, bald wieder zur Arbeit kommen werde. Nur noch ein paar Tage. Er entließ sie mit einer spitzen Bemerkung, die sie glatt überhörte.
Es war gutgegangen. Der nächste Schritt würde schwieriger sein.
Sie hatte nicht das Gefühl, übermäßig lange weggeblieben zu sein. Einige nickten und lächelten sie über ihre Bücher hinweg an, andere starrten sie nur leer an und vergruben sich wieder in ihren Stoff. Dann sah sie Terje. Er saß mit fünf anderen Bekannten im Aufenthaltsraum. Sie bereiteten ihr einen recht herzlichen Empfang. Allen voran Terje. Er war vier Jahre jünger als sie und im ersten Semester. Seit Semesterbeginn hatte er wie eine Klette an ihr gehangen. Auf hundert unterschiedliche Weisen hatte er ihr seine große Liebe erklärt und weder den Altersunterschied noch die Tatsache gelten lassen, daß er acht Zentimeter kleiner war als sie. Er war einfach süß, und im Grunde hatte ihr seine Verehrung sehr gut gefallen.
»Ohne Fleiß kein Preis«, hatte er munter abgewehrt, wenn sie ihm ein seltenes Mal leicht gereizt klargemacht hatte, daß sie jetzt die Nase voll habe.
Sie ließ sich auf einen freien Stuhl fallen.
»Himmel, wie siehst du denn aus«, kommentierte einer aus ihrem Jahrgang. »Du warst ja offenbar wirklich krank!«
»Aber jetzt geht’s mir viel besser«, lächelte sie.
Der andere sah nicht ganz überzeugt aus.
»Ich möchte sogar feiern, daß ich wieder auf den Beinen bin. Mit einem kleinen Zug durch die Gemeinde. Morgen. Kommt jemand mit?«
Das wollten sie alle. Vor allem Terje. Und
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