Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
das, was vor ihr lag, beinahe wie befreit fühlte, wünschte sie sich doch eine effektivere Waffe als ein Messer. Das beste wäre eine Schußwaffe. Damit könnte sie ihn quälen. Die Oberhand haben, ihn in die Lage bringen, in die er sie gezwungen hatte. Das wäre das beste. Das wäre das gerechteste. Dann könnte er Gott anflehen, ihn nicht sterben zu lassen. Und sie könnte sich Zeit lassen. Könnte ihn vielleicht zwingen, sich auszuziehen, vollständig wehrlos und nackt vor ihr zu stehen, vor ihr, die sie Kleider und Waffe hatte.
Ihr Vater verwahrte eine Waffe in seinem Schlafzimmer. Das wußte sie. Aber sie hatte keine Ahnung von Schußwaffen. Was sie allerdings wußte, war, wie man am effektivsten und tödlichsten einen Menschen mit einem Messer verletzt. Aber sie brauchte noch ein wenig Zeit. Er mußte tief schlafen. Und das war beim Menschen zwischen drei und vier der Fall. Zwischen drei und vier war er fällig.
Sie würde es schaffen, ihn umzubringen, auch wenn er schlief. Aber sie war sich durchaus nicht sicher, ob das die Lösung war, die sie bevorzugte.
Die Iranerin saß seit vierzehn Stunden in einer Untersuchungszelle in Lillehammer. Sie hatte etwas zu essen bekommen. Das bekamen dort alle. Mehr war nicht passiert. Sie rief nicht um Hilfe, sagte nichts. Es mußte wohl so sein.
In der Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Es gab so viele Geräusche, es war viel zu hell. Und sie war außer sich vor Angst. Sie hatte in ihrem Leben schon zweimal in einer Zelle gesessen. Die anderen Zellen waren zwar nicht so sauber gewesen, und sie hatte auch nichts zu essen bekommen, aber Unsicherheit und Angst waren genau dieselben gewesen.
Sie verkroch sich in einer Ecke der Zelle, zog die Knie ans Kinn und saß weitere Stunden lang mäuschenstill da.
»Die ist spurlos verschwunden. Niemand hat sie gehört, niemand hat sie gesehen. War offenbar seit Montag nicht mehr zu Hause. Schwer zu sagen, meinen die Nachbarn, weil sie sich nie groß sehen läßt. Aus der Wohnung ist nie auch nur ein Mucks zu hören, sagen die beiden in der Wohnung über ihr.«
Erik Henriksen sah aus wie ein ertrunkener Rotfuchs. Um seine Füße hatte sich bereits eine Lache gebildet, die sich immer weiter ausbreitete. Er beugte sich vor und schüttelte heftig den Kopf.
»He, mich brauchst du nicht auch noch naß zu machen«, protestierte Hanne Wilhelmsen.
»Sieh dir doch bloß das Wetter an«, sagte Erik begeistert. »Es gießt, es pißt, das gibt den reinen Ozean!« Er versetzte sich einen leichten Karateschlag aufs Knie und strahlte. »Autofahren ist fast unmöglich. Der Motor säuft ab!«
Das brauchte er ihr nicht zu erzählen. Hanne Wilhelmsen hatte den Eindruck, daß der Wasserpegel bald ihr Fenster im zweiten Stock erreicht haben würde. Die Verkehrspolizisten unten am Åkebergvei hatten vor einer Stunde aufgegeben und die ganze Straße abgesperrt. Die Menschen im Haus rissen inzwischen keine begeisterten Witze mehr über den Wolkenbruch und die wahnwitzigen Wassermengen, sondern waren eher ein wenig besorgt. Das Verkehrschaos ging ihnen nicht mehr nur auf die Nerven. Ein Krankenwagen hatte eine Panne gehabt, als in einem kleinen See in der Thorvald Meyers gate der Motor naß geworden war; die Patientin war triefnaß gewesen, als die Männer die Bahre mit der alten Dame, die einen Oberschenkelhalsbruch hatte, die zweihundert Meter zur Notstation hatten tragen müssen. Aber es gab Schlimmeres. Vor Feuer hatten sie im Moment am wenigsten Angst; es war einfach ein erschreckender Gedanke, daß die Infrastruktur der Stadt so mir nichts, dir nichts zusammenbrach. In zwei Vierteln existierte keine Telefonverbindung mehr, nachdem ein Trafohäuschen überschwemmt worden war. Und in Ullevål gab gerade ein Krankenhausgenerator seinen Geist auf.
»Was sagen eigentlich die Meteorologen?«
»Keine Ahnung«, sagte Erik, lehnte sich ans Fenster und blickte hinaus. »Aber ich sage, daß das noch eine Weile so weitergeht.«
Der Abteilungschef erschien, als Erik gerade gehen wollte. Er hatte sein Jackett abgelegt, sah aber in seiner Anzughose, die schon einige Kilo zuvor gekauft worden sein mußte, weiterhin beengt aus. Er zog die Hosenbeine hoch, ehe er sich setzte.
»Wir schaffen das wohl nicht bis Samstag, oder was?«
Eigentlich war das eher eine Feststellung als eine Frage, und Hanne sah keinen Grund, aus dem sie hätte antworten sollen.
»Was machen wir jetzt?« fragte er, diesmal offensichtlich auf eine Antwort erpicht.
»Ich habe vier Leute
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