Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
herrlich. Nach der langen Hitzeperiode konnte nicht einmal ein plötzliches Gewitter etwas daran ändern, daß die Sommertemperaturen Vorhalten würden. Das Quecksilber in den Thermometern zeigte noch immer 18 Grad. Die Kinder kreischten vor Freude und rannten trotz des lauten Protestes ihrer Mütter in Badehosen durch den Regen. Der Protest half nichts. Niemand konnte sich erinnern, daß es je so ein lustiges, heftiges, warmes Gewitter gegeben hatte.
Die Engel trauern eben um Kaldbakken, dachte Hanne Wilhelmsen und schaute aus dem Fenster.
Sie kam sich vor wie in einer Waschanlage. Der Regen schlug dermaßen heftig gegen die Scheiben, daß alle Konturen draußen vollständig zu einem hellgrauen Nebel verschwammen. Sie lehnte die Stirn an das kühle Glas, auf dem sich sofort unter ihrem Mund eine Taurose bildete.
Die Sprechanlage befahl sie alle ins Besprechungszimmer. Sie schaute auf die Uhr. Um acht sollte eine Gedenkfeier stattfinden. Sie haßte so etwas. Aber sie ging hin.
Der Abteilungschef wirkte düsterer als sonst, und dazu hatte er allen Grund. Zur Feier des Tages trug er einen Anzug. Der Anzug hatte noch sehr nasse Hosenbeine und sah ziemlich trist aus, was nun wieder zum Anlaß paßte. Das ventilationslose Zimmer war in Dampf gehüllt. Alle waren naß. Allen war warm. Und die meisten waren aufrichtig traurig.
Kaldbakken konnte kaum als populärer Mann bezeichnet werden. Dazu war er zu verschlossen gewesen, zu schweigsam. Zu sauer, wie manche wohl gesagt hätten. Aber er war immer redlich gewesen. Gerecht. Und das war mehr, als sich über etliche andere Chefs im Haus sagen ließ. Wenn sich während der hingestotterten Gedenkrede des Abteilungschefs einige eine Träne abwischten, dann kam die durchaus von Herzen.
Hanne Wilhelmsen weinte nicht. Aber sie war wehmütig. Sie hatten gut zusammengearbeitet, Kaldbakken und sie. Ihre Ansichten über fast alles, was sich außerhalb des großen Hauses bewegte, in dem sie arbeiteten, waren unterschiedlich gewesen, aber in der Regel hatten sie in allen Aspekten der jeweiligen Ermittlung übereingestimmt. Und außerdem: Was man hatte, wußte man, aber was man bekommen würde, das wußte man nicht. Sie hatte keine Ahnung, wer der neue Hauptkommissar sein würde. Schlimmstenfalls würde jemand aus einer anderen Abteilung kommen. Aber das würde wohl noch einige Tage dauern. Kaldbakken sollte noch in Ruhe begraben werden können, ehe ein Nachfolger in sein verräuchertes Zimmer zog.
Der Abteilungschef war fertig, und ein drückendes Schweigen senkte sich über die Versammelten. Stühle wurden verschoben, aber niemand stand auf. Niemand wußte so recht, ob die Sache jetzt vorbei war oder ob die Stille zum Zeremoniell gehörte.
»Na ja, the show must go on«, sagte der Abteilungschef schließlich zu ihrer aller Rettung.
Binnen einer Minute leerte sich das Zimmer.
Hanne Wilhelmsen hatte sich in den Kopf gesetzt, die Iranerin aus dem Erdgeschoß zu finden. Deren spurloses Verschwinden war wirklich besorgniserregend. Insgeheim fürchtete sie, die Frau könnte schon irgendwo mit durchschnittener Kehle im Boden liegen. Der Samstagsmann konnte ja seine Gewohnheiten geändert haben. Auf jeden Fall mußten sie sie finden. Hanne ärgerte sich schrecklich darüber, beim ersten Verhör so nachlässig gewesen zu sein. Damals war es ihr nicht so wichtig vorgekommen. Und sie hatte so verdammt viel zu tun gehabt.
Jetzt wußten sie immerhin, daß die Frau, die sie in dem abgelegenen Garten gefunden hatten, vergewaltigt worden war. Und zwar auf beide Weisen, um es so zu sagen. Hanne Wilhelmsen saß vor dem Untersuchungsergebnis der Gerichtsmedizin. Noch war keine DNS -Analyse gemacht worden, das dauerte verdammt lange, aber in Rektum und Vagina ließen sich Spermien nachweisen.
Die Frau aus dem Erdgeschoß mußte einfach gefunden werden. Sie bat Erik Henriksen, die Formalitäten für eine Fahndung zu erledigen. »In ganz Südnorwegen«, befahl sie. »Oder nein, nimm das ganze Land.«
Sie würde einige Stunden warten müssen. Und in der Zwischenzeit wurde immerhin die Wohnung der Frau überwacht. Sie hatten beschlossen, alle Nachbarn noch einmal gründlich zu befragen. Sicherheitshalber. Vier Beamte waren praktisch den ganzen Tag über damit beschäftigt. Sie selbst hatte im Büro mehr als genug zu tun.
Und hinter dem Fenster sah sie weiterhin nur nasses Grau.
Kristine Håverstad wußte nicht, ob sie einen Schlafenden würde töten können. Obwohl sie sich bei dem Gedanken an
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