Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
ich hole Wein und plündere die Tiefkühltruhe. Und bei mir können wir dann später noch einen trinken. Mein Vater hat garantiert nichts dagegen.«
Das war eine hervorragende Idee. Noch zwei Stunden im Lesesaal, dann würden sie sich bei Cathrine treffen.
Es war sieben, und der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Das Fenster in Hanne Wilhelmsens Büro zeigte keine graue, konturlose Fläche mehr. Nun konnte sie draußen das Dach der Garage für die Dienstwagen und den Gebrauchtwarenhandel auf der anderen Straßenseite ahnen. Der Regen machte das Bild nur ein wenig undeutlich. Aber von gutem Wetter zu reden wäre eine glatte Lüge gewesen.
Die Kollegen waren einer nach dem anderen triefnaß von der Befragung der Nachbarn zurückgekehrt. Ganz zuletzt kam der Polizeianwärter, der die Sache sogar ein wenig spannend gefunden hatte. Und nun saßen sie alle an ihren Schreibtischen und verfaßten ihre Berichte.
»Ihr geht alle erst, wenn auch der letzte fertig ist«, befahl sie energisch, als die anderen über die unbezahlten Überstunden klagten.
»Verdammte Streberin«, erlaubte einer sich zu murmeln, als sie nicht mehr in Hörweite war. »Will die Hauptkommissarin werden, oder was?«
Sie schrieben und schrieben. Zwei hatten mit hoffnungsvollem Lächeln ihre fertigen Produkte abgeliefert und waren sofort zurückgeschickt worden. Schließlich lag ein Stapel aus vierundzwanzig A4-Seiten auf Hanne Wilhelmsens Schreibtisch. Nun durften sie gehen, und sie stürzten davon wie Schuljungen am letzten Tag vor den Sommerferien.
Noch immer fehlte jede Spur von der Iranerin. Das machte Hanne Wilhelmsen mittlerweile ernsthafte Sorgen. Aber es war nach neun, und sie war todmüde. Eigentlich sollte sie diese Berichte noch sorgfältig lesen, vielleicht brachten die sie ja weiter.
»Wohl kaum«, sagte sie nach einer kurzen Denkpause zu sich selbst.
Aber sicherheitshalber nahm sie die Berichte mit. Sie konnte sie zu Hause lesen. Ehe sie ging, ordnete sie noch an, daß sie sofort informiert werden sollte, wenn die Iranerin gefunden würde. Oder, besser gesagt: falls sie gefunden würde.
Das Wetter gab dem Fest erst die richtige Würze. Der Regen schlug wie an einem zünftigen Herbstabend gegen die Fensterscheiben, und im Haus war es warm, trocken und ausgesprochen feuchtfröhlich. Zwei von den Männern versuchten, tiefgefrorene Filetsteaks zu braten.
»Ich will meins roh«, rief Torill.
»Roh«, murmelte der eine Brater. »Sie kann froh sein, wenn es ein wenig angetaut ist.«
Finn Håverstad hatte weder Freude noch Besorgnis gezeigt, als Kristine ihm unerwartet erklärt hatte, sie gehe auf ein Fest. Sie schien nicht in ausgesprochener Feststimmung zu sein. Aber er hatte ihr eine Kiste Wein dazugegeben. Sie hatten kaum einen Blick getauscht. Als sie das Haus in Begleitung dieses überaus höflichen jungen Mannes verlassen hatte, war er fast erleichtert gewesen. Wenn er Glück hatte, würde sie die ganze Nacht wegbleiben. Das war durchaus denkbar, so viel Wein, wie sie mitgenommen hatten.
Er hatte anderes zu tun. Anderes zu bedenken.
Kristine trank so gut wie überhaupt nicht, und das war alles andere als leicht. Terje ließ sie nicht aus den Augen. Kaum hatte sie einen Schluck getrunken, schon füllte er ihr Glas wieder auf. Am Ende stand sie auf und ließ sich neben einer riesigen Yuccapalme nieder. Terje kam natürlich hinterher. Das machte ihr aber nichts aus, eher im Gegenteil.
Das Fest verlief so, wie Feste das nun mal an sich haben. Sie tranken und lärmten, und sie aßen die Filetsteaks, die außen leicht verkohlt und innen gefroren waren. Sie aßen gebackene Kartoffeln und machten sich später am Abend noch Glühwein. Sie hatten Angst vor den Prüfungen und freuten sich auf den Sommer. Sie machten kurzfristige Interrail- und langfristige Pläne über Doktorarbeiten und Gehirnchirurgie.
Als die Kirchturmuhr, die sich auf der anderen Straßenseite undeutlich abzeichnete, zwölf hohle Schläge von sich gab, waren alle reichlich breit. Abgesehen von Kristine Håverstad. Sie hatte das Kunststück vollbracht, den ganzen Abend über nur ein kleines Glas zu trinken. Die Yuccapalme dagegen ließ schon die Blätter hängen.
Die Iranerin war vor fast genau sechzehn Stunden nach der Wette von den beiden Polizisten in Lillehammer aufgegriffen worden. Noch immer hatte niemand mit ihr gesprochen. Noch immer hatte sie mit keinem Mucks gegen diese Behandlung protestiert. Noch immer saß sie mit angezogenen Knien todmüde und
Weitere Kostenlose Bücher