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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Wohnraum mit integrierter Küche und nur drei Räumen, wo man die Tür hinter sich zumachen konnte, das Klo war da schon dabei. Großkotziger Stil der siebziger Jahre, als die Architekten rohen Beton »ehrlich« fanden und ihn überall wuchern ließen, so dass man nie wusste, ob die Gebäude schon fertig waren oder noch eine Fassade drauf kam. Damals kam eben keine drauf. Hilde hatte es ausgesucht, nun war sie ausgezogen, das ist das Pech, wenn man einen Anwalt heiratet. Die einzigen Männer unter Semmlers Bekannten, die nach der Scheidung dort wohnen blieben, wo sie vorher gewohnt hatten, waren Anwälte. Sieh an, Wurtz, den er immer als absoluten Pantoffelheld gesehen hatte, konnte auch anders. Ja, Wurtz konnte auch anders und ohne Hilde erst recht.
    Semmler blieb stehen und atmete tief durch. Er war zu schnell gelaufen, jetzt hatte er Seitenstechen. Sollte man Wurtz, der in diesem Augenblick wahrscheinlich seine Frau vögelte, nicht auf besonders grausame Weise umbringen? Nein, sollte man nicht, flüsterte die kühle Stimme in seinem Kopf, und er wusste: die Stimme hatte recht. Das Problem war nicht Wurtz, der war nur ein Symptom, nicht Ursache. Lag es an Ursula? Wenn nicht auf den ersten, so doch auf den zweiten Blick schien das so zu sein, aber es war falsch.
    Ursula reagierte nur auf geänderte Umstände. Die Ursache lag bei ihm selbst. Er war arm, schlimmer: arm geworden. Erst reich, nun arm – das war kein Nebenaspekt seines Daseins, das war die Hauptsache. Er hatte Ursula verloren, weil er arm war. Die Erkenntnis erschütterte ihn nicht. So wenig wie die Summe am unteren Ende einer Dienstagnachmittag-Einkaufsrechnung. Siebzehn fünfundachtzig. Na ja, warum nicht, an dem Betrag war nichts Erstaunliches. Er hatte ihn nicht gekannt, bis er von der Kasse ausgespuckt wurde; so weit war es noch nicht, dass er bei jeder Ware, die er in die Hand nahm, den Preis auf eine innere Rechnung addieren musste, um sicher zu gehen, dass der Zehner reichen würde, der letzte, der er noch hatte – so arm war er nicht. Aber zu arm für Ursula. Arm genug für Maßnahmen. Er hatte es die ganze Zeit gewusst – wie er gewusst hatte, dass es am Dienstagnachmittag beim SPAR rund zwanzig Euro ausmachen würde – aber er hatte nicht daran gedacht.
    Das Seitenstechen ließ nach.
    »Es überrascht mich nicht«, sagte er laut vor sich hin. Es war halb zwölf, kein Mensch auf der Goethestraße. Er trat zum Eingang, die massiven Glastüren gaben dem Druck nicht nach, natürlich versperrt um diese Zeit, überprüft werden musste es doch, es hätte ja sein können ... dann wäre er hinaufgegangen, nein, wäre er nicht, das war das Idiotischste, was einer in dieser Lage tun konnte. Er war jetzt froh, dass die Tür zu war. Blieb nur, ums Haus herumzugehen. Im Osten, auf den Berg zu, lag ein großes, unbebautes Grundstück, das zu einer Villa gehörte; von dort konnte er die andere Seite der Pyramide einsehen. Wurtz’ Wohnung lag im fünften Stock. Die Hoffung reichte für hundert Schritt, oder zweihundert? So weit musste er gehen, um aufdie andere Seite zu kommen. Wenn dann von dort aus der fünfte Stock im Dunkeln liegen würde – dann hieß das, Wurtz und Ursula waren nicht nach Hause gefahren, sondern in einen der zahlreichen Clubs. Und das wiederum hieße, es war noch nicht so weit gediehen ...
    ... zum Äußersten gekommen? Die Stimme im Kopf voller Hohn, und kalt. Was bist du eigentlich? Eine alte Jungfer, eine ... »Halt dein verschissenes, verfluchtes Maul!«, sagte Semmler. Er brüllte nicht, aber im Umkreis von zehn Metern hätte ihn jeder hören können. Er drehte sich um. Er war allein.
    Wenn es dunkel ist, du trauriger Halbidiot, kann das auch daran liegen, dass die beiden schon bei der Sache sind, Ursula schätzt keine Festbeleuchtung, während sie es besorgt kriegt, das weißt du doch ... »Scheiße!«, brüllte er. Jetzt brüllte er, trampelte mit den Füßen auf den Boden wie ein Vierjähriger, dann stützte er sich am Grundstückszaun ab, ging weiter. »Ich muss mich zusammenreißen«, sagte er in seiner normalen Tonlage, mit der Geschäftsstimme, die früher in diversen Gremien einen wohltuenden, kalmierenden Effekt ausgeübt hatte. Die Stimme der Vernunft.
    Er kroch auf allen Vieren durch die Hecke auf das freie Grundstück. Das Gras war mit Reif überzogen und eiskalt. Er lief ein Stück vor. Wenn Hunde zu der Villa gehörten, hatte er Pech. Alles blieb still. Er lief um ein Ligustergebüsch, das den Blick auf die

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