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Sense

Sense

Titel: Sense Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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sagte nichts, sondern tigerte nur hin, her und wieder hin durch die Bude, während Doris quietschvergnügt wie eine ahnungslose junge Hündin, die ganz begeistert ist, dass all die netten Rüden mit ihr spielen wollen, durch die Kulissen tollte.
    Ich hätte zu Hause schlafen sollen, sagte ich mir, ich ertrage Scuzzi in seinen eigenen vier Wänden einfach nicht.
    Acht Stunden Tiefschlaf und eines der letzten großen Abenteuer des Alltags - vierundzwanzig Stunden ohne Alkohol -hatten vergessene Energiereserven geweckt bei mir, die sich in erster Linie in gesteigerter Nervosität und hektischem Aktionismus zu erschöpfen suchten.
    »Geh ich ihn eben wecken«, sagte ich, fädelte sachte meine Rechte in die Jacke, schnappte mir den Schlüssel und stürmte aus dem Haus.
    Eine klare Birne ist eine feine Sache an einem Morgen ohne Sorgen. Heute, für einmal, hätte ich lieber eine Bratsche gehabt. Die Sorte, die einem auf dem Hirn sitzt wie eine tote Qualle und irgendeine anders geartete Tätigkeit als abliegen und flach atmen für die nächsten Stunden machtvoll unterbindet. Doch nein.
    Der Crown schlurfte gleichgültig durch den Verkehr, das Radio dudelte irgendeinen seichten Scheiß, die Kippe glomm rot in der zugigen Luft des Autos, und mein allzu wacher Denkapparat hielt mir die Quittung für all mein Handeln der letzten Tage mit einem maliziösen Lächeln unter die Nase wie ein gehässiger Kellner den Deckel mit 'nem, zweikreisigen Jägerzaun drauf.
    Da hatte ich Sascha Sentz also tatsächlich gefunden, wenn auch durch puren Zufall, aber egal, und was hatte ich daraus gemacht? Hatte ich ihn hinter seinem Rücken an die Gattin verscherbelt für den Gegenwert von zwanzigtausend Linsengerichten mit Suppengrün? Nein, ich war mit ihm - o klarer Kopf, o evidente Erinnerung - auf die Rolle gegangen, grausam versackt, abgestürzt in Feuer und Flammen und fliegenden Fetzen und hatte anschließend zugelassen, dass man ihm in meiner eigenen Hucke das Genick brach. Ich konnte Veronika verstehen, und Ursel Sentz natürlich auch, wenn sie mir Versagen vorwarfen. Dabei war er es doch gewesen, der angefangen hatte mit den kleinen, klebrigen Schnäpsen.
    >Kristof Kryszinski,< hatte ich mich vorgestellt und dann erst mal nicht weiter gewusst, weil der Gedanke an zwanzig große Lappen mein Wortfindungsvermögen lähmte wie ein harter Schlag über den Schädel, und - >Kristof Kryszinski?< - hatte Sascha geechot und die sonnenbankgebräunte Stirn gerunzelt, sich plötzlich entspannt, mich voll angesehen und gesagt: >Du hast ja einen sagenhaften Ruf.< Und dann, nach einem kleinen Wink zu Hasso Kottge, noch eine Runde auszuteilen, ganz ernsthaft hinzugefügt: >Als Liebhaber, meine ich.<
    So was kriegt man nicht alle Tage gesagt, und ich musste rasch den angebotenen kleinen braunen Schnaps kippen, um eine flüchtige, minimale Verunsicherung zu überspielen. Ich? Einen sagenhaften Ruf? Als Liebhaber? Kannte er eine, mit der ich mal ...? Wollte er mich hochnehmen? Mich bauchpinseln? Oder anschwulen? Dann, mit einem Mal, ich weiß nicht, woher, fiel mir sein - Saschas - vom Porno-Soundtrack begleitetes Telefonat mit Scuzzi ein, und ich musste lachen, und wir stießen an und quatschten ein bisschen, und dann war ich dran, eine Runde kommen zu lassen, und ziemlich genau ab da, kann man sagen, beginnt der weitere Verlauf des Abends sich einer exakten Rekonstruktion zu widersetzen.
    Ganz anders der gestrige Abend.
    Scuzzi und ich hatten, bevor mich der Sandmann niederstreckte, noch ein Viertelstündchen über Siegfried >Elvis< König geplaudert, und ich habe alles behalten, was mein Freund Pierfrancesco über diesen schillernden Charakter zu erzählen gewusst hat. Alles.
    Der untersetzte Mann, den ich, wie ich mich erinnerte, als eine Karikatur von Elvis Presley, Gary Glitter und Liberace gleichzeitig am Kartentisch wahrgenommen hatte (wilde, schwarz gefärbte Tolle, daumendicke Koteletten bis runter ans Kinn, ein Mörderkragen wie ein Stück Rennbahnoval im Nacken, genug Ringe und Ketten, um ihn selbst mit Schwimmweste zu versenken), war das Ruhr-City-Äquivalent zu einer Reeperbahngröße. Boxpromoter, Rotlichtgastronom, Import-Export-Unternehmer. Und so weiter und so fort . Ex-Boxer, Ex-Rennfahrer, Ex-Fremdenlegionär. (O nein, nicht noch einer, hatte ich gedacht. Wenn alle, die das von sich behaupteten, wirklich dabei gewesen wären, hätte die Legion zeitweise die Mannstärke der Roten Armee gehabt haben müssen.) Eine fast schon nostalgische

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