Sensenmann
oben und dann nach links.
»Nein.«
»Wahrscheinlich liegt wirklich einfach eine Verwechslung vor. Lassen Sie mich einmal hineinschauen. Vielleicht gibt es Anhaltspunkte, anhand derer wir den wahren Adressaten feststellen können.« Er belog ihr Unterbewusstsein, aber es gab keine andere Möglichkeit. Warum wühlte das Geschriebene sie so auf, dass sie hundertfünfzig Kilometer nach Berlin fuhr, um ihren Therapeuten aufzusuchen – wegen eines Briefes, der nicht an sie gerichtet war und dessen Inhalt ihr egal sein konnte? Etwas darin hatte Maria Sandmann ziemlich verstört, aber sie wagte nicht, es sich einzugestehen. Er musste den Text lesen. Behutsam streckte Mark die Hand aus, und jetzt reagierte die Frau und gab ihm das Kuvert.
Dienstag, der 14. 07.
Liebe Mandy,
wahrscheinlich wirst Du diesen Brief nie zu Gesicht bekommen. Wenn Du ihn aber liest, ist entweder irgendetwas verdammt schiefgegangen, oder ich habe meine Vorhaben geschafft. …
Wenn das Datum stimmte, war er vor vier Wochen geschrieben worden. Es waren zwei Blätter, eine Kopie des Originals. Auf Seite zwei hatte jemand mittendrin einen Teil herausgeschnitten. Mark Grünthal überflog die erste Seite, ohne konkrete Inhalte
wahrzunehmen. Stattdessen analysierte er die Schrift des Verfassers. Das Bewegungsbild zeigte eine eilige, druckvolle Schrift, die Buchstaben waren fast durchweg miteinander verbunden, die n- und m-Bögen girlandenförmig. Es dominierten magere, spitze Formen, i-Punkte waren vorauseilend gesetzt. Formbild und Raumbild erschienen relativ normal. Die Anfangsbuchstaben waren betont, die Schrift griff weit nach oben und unten aus. Es war nur eine flüchtige graphologische Analyse. Für exakte Angaben würde er nachmessen und vergleichen müssen, aber fürs Erste reichte das, um den Verfasser einzuschätzen. Ein Mensch, der flexibel im Denken war und Zusammenhänge gut erfasste. Sachverstand überwog gegenüber Gefühlen und Fantasien. Der Verfasser besaß klare Zielvorstellungen, blieb meist innerlich kühl und distanziert und vertraute auch im mitmenschlichen Kontakt mehr dem Kopf als dem Herzen. Jemand, der sich in seinem Tun nicht gern aufhalten ließ, manchmal etwas hastig und ungeduldig sein konnte, meist aber dynamisch und unternehmungslustig war.
Mark ließ den Brief sinken. Maria Sandmann hatte die Hände auf die Oberschenkel gelegt. Sie rührte keinen Muskel, nur ihre Augen wanderten. Von Marks Gesicht zu dem Brief in seiner Hand und wieder zurück. Sie schien auf etwas zu warten.
»Sehr interessant. Darf ich es noch einmal in Ruhe durchgehen?« Mark hob die Seiten kurz an. Das Nicken der Frau war unmerklich. Er begann zu lesen.
Jetzt, meine liebe Mandy, jetzt aber will ich Dir endlich vom ersten Schritt berichten! Sicher bist Du schon gespannt, wen ich mir als Erstes vorgenommen und wie ich ihn bestraft habe… Ist Dir Sieg fried Meller noch gegenwärtig? »Fischgesicht« nannten wir ihn im Geheimen, weil er diese hervorstehenden Augen hatte und seine aufgequollenen, viel zu roten Lippen immer die Form eines erstaunten »Os« hatten. Eigentlich sah er ganz
harmlos aus, fast ein bisschen dumm, was er nicht war. Er liebte Wasser in jeder Form, dieses Schwein …
Mark sah auf und runzelte die Stirn. Die Beschreibung erinnerte ihn an etwas, aber er konnte nicht sagen, was es war, also blätterte er um und las weiter.
Ich habe es gesehen. Als die kleine Heike aus dem Keller zurückkam, war ihr Blick wie tot, und sie ist gelaufen wie einer dieser Blechroboter zum Aufziehen. Es hat Tage gedauert, bis sie wieder mit uns gesprochen hat. Wahrscheinlich erinnerst Du Dich nicht daran, denn Du warst damals ja auch noch ziemlich klein, und ich habe so gut es ging versucht, Dich von solchen Erlebnissen fernzuhalten …
Mellers Zappeln wurde schnell schwächer. Ich zählte bis fünfzehn und zog seinen Kopf dann mit einem Ruck aus dem Wasser. Er röchelte und hustete. Es klang genauso wie bei uns, wenn das Gesicht aus dem Waschkessel auftauchte. Da wusste ich, dass er das Gleiche empfand wie die kleine Heike und all die anderen Kinder, die er aus purer Lust am Quälen gepeinigt hatte. Diese Panik, wenn man keine Luft bekommt, wenn die Kehle immer enger wird, wenn der Brustkorb sich zusammenzieht, wenn man weiß, man muss den Mund geschlossen halten, und es doch nicht beherrschen kann. Dann dieses schreckliche Gefühl, nach Luft zu schnappen und Wasser einzuatmen – Todesangst.
Ich gab ihm ein paar Sekunden Zeit,
Weitere Kostenlose Bücher