Sensenmann
ein heißer Tag werden. Marks Augen
glitten über das Familienbild, und er runzelte die Stirn. Anna war auch heute Morgen noch wütend auf ihn gewesen. Und wie er sie kannte, würde ihr Zorn noch ein paar Tage anhalten. Er beschloss, ihr heute Abend einen Blumenstrauß mitzubringen. Thorwald war fertig mit seiner Zusammenfassung. »Es ist natürlich immer schwierig, eine Ferndiagnose zu stellen, aber ich schlage dir vor, dass du diese Patientin heute nicht hypnotisieren solltest, Mark. Ich glaube, sie ist noch nicht so weit. Da schlummern bedrohliche Dinge in der Psyche, die du nicht zu schnell hervorholen darfst, sonst gefährdest du ihre Stabilität noch weiter. Ich muss jetzt los, aber ich werde über den Fall nachdenken. Kannst du mir eine Zusammenfassung faxen? Dann telefonieren wir heute Abend noch einmal.« Er verabschiedete sich und legte auf. Mark sah zum Fenster. Gelbgefiltertes Licht drängte durch die Blätter der Kastanie. Ein Auto hupte, dann war es wieder still. Die Patientenakte lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Ein schneller Blick zur Uhr zeigte ihm, dass ihm noch fünfzehn Minuten blieben, bis Maria Sandmann kam. Gerade ausreichend Zeit, um seine Notizen an den Freund zu faxen. Er würde Schwester Annemarie die privaten Daten und den Namen schwärzen lassen, um die Schweigepflicht nicht zu verletzen. Mark klemmte sich die Papiere unter den Arm und ging zur Tür.
»Fahr doch, du Heini! Mann, Mann, Mann…« Mark schüttelte den Kopf. Das Auto vor ihm zuckelte mit sechzig über die Schnellstraße. Das Kennzeichen verriet ihm, dass es sich um ein Auto aus dem Landkreis Dahme-Spree handelte. Diese Fahrer waren bei den Berlinern als schlimme Trödler verschrien. Und der Mann trug einen Hut. Das war ein schlechtes Zeichen. Welcher normale Mensch ließ im Auto seinen Hut auf? Und erst recht bei der Hitze?
In letzter Minute bremste Mark seine linke Hand, die gerade die Lichthupe betätigen wollte. Er führte sich auf wie ein Neandertaler.
Aber da nützte das ganze Psychologiestudium nichts. In ihren Autos wurden sie alle wieder zu Steinzeitmenschen. Er konnte die psychologischen Hintergründe dafür erklären. Und doch war er manchmal nicht in der Lage, das Wissen darum auf sein eigenes Verhalten anzuwenden. Der Hutfahrer bog ab, und Mark trat aufs Gas. Er hatte es eilig.
Auf der Autobahn stellte er den Tempomat auf hundertvierzig und dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Maria Sandmann war nicht zur vereinbarten Zeit erschienen. Nachdem er ihr eine Viertelstunde Karenzzeit gegeben hatte, war Mark unruhig geworden und hatte seine Sprechstundenhilfe angewiesen, die Patientin anzurufen – die Nummern hatten sie in der Akte, aber diese war weder an ihr Festnetztelefon noch an ihr Handy gegangen. Freunde oder Verwandte, die im Notfall verständigt werden konnten, hatte sie nicht angegeben. Den für elf Uhr bestellten Patienten hatte Mark abwesend und ziemlich schnell abgefertigt, nur um sich danach sofort wieder seinen Aufzeichnungen im Fall Maria Sandmann zuzuwenden. Die Gewissensbisse, sie in ihrem derangierten Zustand gestern Abend einfach so wieder nach Hause geschickt zu haben, nahmen von Minute zu Minute zu.
Nach einer weiteren Viertelstunde hatte Mark es nicht mehr ausgehalten und die Nachmittagstermine abgesagt. Und jetzt saß er hier in seinem Auto und war auf dem Weg zu Maria Sandmann, in dem Wissen, dass es im höchsten Maße unprofessionell war, eine Patientin zu Hause aufzusuchen.
Aber falls seine Vermutung stimmte, dass die Frau durch diesen Brief inzwischen hinter das tief in ihr verborgene Geheimnis gekommen war, war sie akut gefährdet. Mark gab Gas.
»Was willst du denn schon hier?« Tom redete, ohne hochzusehen. »Ist doch erst zehn.«
»Ich habe einiges zu recherchieren.« Lara hängte ihre Tasche über den Stuhl und grüßte die anderen in der Redaktion, indem sie in die Runde winkte. Musste sie sich jetzt schon vor dem Kollegen rechtfertigen, dass sie vor Schichtbeginn da war?
»Na, dein Problem. Wenn du so arbeitsgeil bist, bitte schön.«
Lara antwortete nichts. Tom Fränkel schien schlechte Laune zu haben. Er achtete jedoch stets darauf, dass kein Außenstehender seine Pöbeleien mitbekam, schon gar nicht Hampenmann. Dem Chef gegenüber präsentierte er sich als arbeitseifriger, kompetenter Journalist.
Sie setzte sich und fuhr ihren Computer hoch. Nur kurz dachte sie an das »Mobbing-Tagebuch«, das sie hatte anlegen wollen. Irgendwann würde Tom seine
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