Sensenmann
da.« Der Kopierer stand im Wartezimmer. Im Hinausgehen grübelte Mark, was er jetzt tun sollte. Was hatte die Patientin sich erhofft, als sie mit dem Schreiben zu ihm gekommen war? Vorhin hatte sie den Eindruck gemacht, kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen, aber ihr Befinden hatte sich ohne sein Zutun konsolidiert. Durfte er sie nach Hause schicken? Sie musste hundertfünfzig Kilometer fahren. War die Frau stabil genug dafür? Und würde sie daheim stabil bleiben? Sie hatte suizidale Fantasien geäußert, sie schlafwandelte, in ihrer Psyche gab es verschlüsselte Geheimnisse. Der Kopierer erwachte summend zum Leben, ratterte und fuhr den Wagen mit den Druckerpatronen hin und her. Im Sprechzimmer war Totenstille. Wahrscheinlich saß Maria Sandmann noch immer wie festgewachsen auf ihrem Sessel und rührte kein Glied. Mark klappte den grauen Deckel hoch und legte die erste Seite auf das Glas.
Andererseits – was könnte er sonst für sie tun? Die Probleme dieser Frau waren mit einer einzigen Hypnosesitzung nicht zu bewältigen. So, wie er die Sache einschätzte, würden sie mindestens ein halbes Jahr brauchen. Er hatte ein schlechtes Gewissen.
Aber was gab es sonst für Alternativen? Es war inzwischen kurz vor sieben. Seine Frau und die Kinder warteten, dass er endlich zum gemeinsamen Essen erschien. Das zweite Blatt glitt ins Ablagefach, und Mark schaltete das Gerät aus und ging zurück zu seiner Patientin. Sie stand neben dem Sessel, in den Händen das leere Kuvert.
»Können Sie morgen wiederkommen, Frau Sandmann?«
»Wann?« Sie nahm das Original, faltete es und schob die Seiten zurück in den Umschlag.
»Um zehn hätte ich einen Termin frei.«
»Gut.« Jetzt sah sie ihm direkt in die Augen. Ihr Blick war klinisch kalt. Mark hatte für eine Sekunde das Gefühl, sie analysiere ihn , dann war der Moment vorbei. Maria Sandmann zog sich die Tasche über die Schulter und warf ihm im Hinausgehen ein »Dann bis morgen! Wiedersehen!« zu. Es machte den Eindruck, als könnte sie gar nicht schnell genug verschwinden. Die Tür fiel ins Schloss. Weg war sie. Im Spiegel sah Mark die Querfalten zwischen seinen Augenbrauen. Er wurde aus ihr nicht schlau. Einmal war sie wie ein hilfloses Kind, dann wieder spielte sie die kühle, rationale Frau. Etwas stimmte ganz entschieden nicht mit ihr, aber er konnte einfach nicht erkennen, was es war.
Für die morgige Sitzung mit ihr würde er sich besonders gründlich vorbereiten müssen. Mark beschloss, sich noch zehn Minuten zu nehmen, setzte sich in seinen Sessel, nahm den Brief noch einmal zur Hand und vertiefte sich in das Geschriebene.
Dass er den Namen Meller schon einmal in anderem Zusammenhang gehört hatte, fiel ihm in diesem Moment nicht ein. Noch nicht.
42
»Guten Morgen, Thorwald.« Mark grinste, als er die brummige Stimme seines Freundes aus Studientagen hörte. »Ich weiß, es ist früh, aber ich bräuchte deinen Rat in einer diffizilen Angelegenheit. Hast du ein paar Minuten?« Mark lauschte der Antwort und sah dabei flüchtig die Briefe durch, die Schwester Annemarie bereits geöffnet hatte. Ab und zu berieten er und Thorwald sich gegenseitig. Er selbst war Spezialist für Fallanalysen, Thorwald Friedensreich für Hypnosetherapie. Bei jedem Telefonat versicherten sie sich, dass es an der Zeit sei, sich wieder einmal zu treffen. In den letzten drei Jahren hatten sie es nicht geschafft. Und wahrscheinlich würde es auch heute wieder bei dem Versprechen bleiben.
Mark setzte fort. »Ich habe derzeit eine problematische Patientin. Sie kommt in einer halben Stunde. Ich bin mir unschlüssig, ob die Hypnosetherapie in diesem Fall nicht sogar kontraproduktiv ist.« Er war heute eine Stunde eher in die Praxis gegangen, um sich die Aufzeichnung der letzten Sitzung mit Maria Sandmann anzusehen und seine Notizen durchzugehen. »Sie ist noch nicht sehr lange bei mir in Behandlung. Das erste Mal kam sie vor zwei Wochen mit diffusen Befindlichkeitsstörungen.« Mark fasste kurz zusammen, was in der Zwischenzeit passiert war, und beschrieb die suizidalen Fantasien, das Schlafwandeln und die Gedächtnisausfälle. In der gedrängten Form seiner Aufzeichnungen wirkten die Symptome noch beunruhigender. Er endete mit dem gestrigen Besuch Maria Sandmanns und dem Inhalt des Briefes. Thorwald ließ sich noch einmal den genauen Ablauf der Hypnosesitzung erläutern und wiederholte dann die Details stichpunktartig. Vor dem geöffneten Fenster zwitscherte eine Amsel. Es würde wieder
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