Sensenmann
Stimmen in seinem Kopf, lauter als je zuvor. Wo ist dieser verdammte Brief?
Hatte er ihn versehentlich abgeschickt? Aber warum konnte er sich dann nicht daran erinnern? Matthias stopfte die restlichen Papiere zurück in die Schatulle und versuchte nachzudenken. Die Gedanken spielten Fangen in seinem Gehirn, versteckten und jagten sich. Zwischendurch flammten immer wieder Wörter wie eine grellrote Neonreklame auf: Wo – ist – der – Brief?
Er sah sich selbst am Tisch sitzen, die Haare zerrauft, sah, wie die Finger unablässig einen Marsch auf das Holz trommelten. Er musste sich zusammenreißen. Etwas in seinem Kopf funktionierte nicht mehr richtig.
Plötzlich sprang er hoch, machte zwei schnelle Schritte und klappte den Deckel des Kopierers auf. Auf dem Vorlagenglas lag der Brief. Seine erste Nachricht an Mandy. Fast wären ihm die Tränen gekommen, aber er konnte sich gerade noch beherrschen. Die Kopien waren verschwunden, aber nachdem er den Papierkorb durchsucht hatte, fand er fein säuberlich abgetrennte Ausschnitte. Matthias legte die Teile neben das Original und verglich
Zeile für Zeile. Die fehlenden Textpassagen waren unerheblich. Wenn das die Teile waren, die Mandy erhalten hatte, bestand keine unmittelbare Gefahr. Langsam beruhigte er sich wieder. Das Geschrei im Kopf wurde zu einem leisen Murmeln. Endlich wirkten die Tabletten. Matthias Hase war wieder funktionsfähig. Er ballte mehrmals die Fäuste und lockerte sie wieder, dann fühlte er sich bereit zu neuen Taten.
Vielleicht hatte Mandy den Brief gar nicht ernst genommen. Wie es aussah, hatte er ihr nur Auszüge geschickt. Und trotzdem spürte er, dass die Zeit knapp wurde. Wenn er sich Miss Piggys annehmen wollte, dann musste er sich beeilen.
43
»Mark? Hier ist Lara. Ich weiß nicht, wo du gerade steckst, aber ruf mich bitte schnell zurück. Ich habe hier etwas entdeckt, eine Verbindung zwischen Meller und Grünkern, unseren beiden Plattenbauleichen. Beide waren zu DDR-Zeiten als Erzieher in einem Kinderheim bei Zwickau tätig.« Sie wusste nicht, was sie noch hinzufügen sollte, und legte auf. Mark würde sie zurückrufen, wenn er seine Mailbox abhörte. Lara erwog kurz, ihn in der Praxis anzurufen, verwarf den Gedanken aber ganz schnell wieder. Er hasste es, bei der Arbeit gestört zu werden. Außerdem hatte seine Sprechstundenschwester vorhin gesagt, er sei unterwegs.
… dass ich in meiner Liste noch jemanden vergessen habe: Herrn Meller. Ich glaube, er hieß mit Vornamen Sieg fried, aber wir nannten ihn nur »Fischgesicht« … Wieder und wieder wurde der Text der E-Mail in Laras Kopf eingeblendet. Sie sah am Redaktionsgebäude nach oben. Die verspiegelten Fenster gleißten in der Mittagssonne. Rainer Grünkern und Siegfried Meller hatten
beide in dem gleichen Kinderheim gearbeitet. Die Sonne verursachte ihr Kopfschmerzen, und Lara trat in den Schatten.
Sebastian Wallau hatte außerdem geschrieben, dass Grünkern ein »sehr böser Mann« gewesen sei, der auf Kinder stand. Was, wenn das auch auf Meller zutraf? Nachdenklich betrachtete Lara ihr Mobiltelefon. Sie musste die Polizei informieren. Das Nussknackergesicht von Kriminalkommissar Stiller erschien vor ihrem inneren Auge. Auf gar keinen Fall rufst du den Blechmann an! Zögernd drückte sie die Eingangstür auf und begab sich auf den Weg nach oben.
»Lara ist telefonieren gegangen. Sie kommt bestimmt gleich wieder.« Isabells helle Stimme drang durch die halbgeöffnete Tür ins Treppenhaus. Lara setzte den Fuß auf die oberste Stufe und blieb dann stehen.
»Die dreht langsam durch, scheint mir. Zuerst erhebt sie dauernd haltlose Anschuldigungen gegen mich. Dann verpasst sie Termine und vergisst, sich in die Abwesenheitsliste einzutragen. Und jetzt verschwindet sie einfach von ihrem Arbeitsplatz. So geht das nicht weiter.« Tom klang freudig erregt. »Wenn der Chef zurückkommt, werde ich mit ihm darüber sprechen müssen.«
»Wo könnte Lara denn hingegangen sein?«
»Keine Ahnung. Zuerst hat sie mir vorgeworfen, ich hätte in ihren Dokumenten rumgeschnüffelt, und dann ist sie wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen und hat irgendwas von ›telefonieren‹ gefaselt. Jetzt ist sie schon eine Viertelstunde weg.«
»Sie kommt bestimmt gleich zurück.« Jetzt hörte Isabell sich ängstlich an.
»Und wenn. Das ist auch egal, Isi. So verhält man sich einfach nicht. Ich werde jetzt mal in ihrem Rechner nachschauen, was Lara so aufgebracht haben könnte. Das ist
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