Sensenmann
hatte die ganze Zeit nicht eine einzige Zigarette geraucht.
Sie waren auf dem Parkplatz angekommen. Laras gelber Mini Cooper leuchtete in der Abendsonne.
»Das war nett. Bis bald.« Sie streckte die Hand aus. In Gedanken war sie schon bei den Einkäufen, die sie auf dem Heimweg erledigen wollte.
Ralf Schädlich stieg in sein Auto und brauste davon. Lara sah ihm nach und atmete dann tief durch. Hoffentlich bildete sich der Mann jetzt nichts ein. Was für eine Schnapsidee das Treffen gewesen war! Sie war für solcherart »Recherchen« einfach nicht geschaffen. Am Ende hatte sie nichts von Belang erfahren, außer der Tatsache, dass der unbekannte Mann ertränkt worden war. Tom hätte sich damit garantiert nicht zufriedengegeben oder sich gar mit derartigen Skrupeln geplagt.
Im Auto nahm sie das Diktiergerät aus der Zigarettenschachtel und schaltete die Aufnahme ab. Ihr Finger verharrte über der »Löschen«-Taste. Dann legte sie das Gerät vorsichtig auf den Beifahrersitz. Vielleicht hatte Mark noch Hinweise zu dem Gesagten. Sie schnallte sich an und fuhr los.
»Los, iss!« Die Stimme kam von hinten, und sie klang drohend. »Mach schon!« Ein Klatschen folgte. Lara bremste unwillkürlich. Beim Blick in den Rückspiegel sah sie ihr Gesicht. Zwischen den Augenbrauen standen zwei senkrechte Falten. Die Rückbank war
leer. Wie konnte es auch anders sein. Sie hatte eingekauft und war jetzt auf dem Weg nach Hause – allein. Niemand begleitete sie. Hinter ihr hupte ein ungeduldiger Fahrer, und sie bog in eine Bushaltestelle ein und hielt an.
»Du sollst das essen!« Ein schärferes Klatschen folgte. »Hab dich nicht so!« Jetzt drehte Lara sich um und sah hinter die Sitze. Da war nichts. Und doch waren die Kommandos direkt hinter ihrem Rücken gewesen.
Wie ein schizophrener Patient hörte sie Stimmen, die ihr Befehle erteilten. Das hatte ihr noch gefehlt. Davon einmal abgesehen, dass sich nichts Essbares in ihrer Nähe befand.
Es dauerte einige Sekunden, ehe Lara klar wurde, dass das eben kein Anzeichen einer Geisteskrankheit gewesen war. Ihre »Gabe« war zurückgekehrt.
8
AUCH SPEISEN UND GETRÄNKE KÖNNEN VERWENDET WERDEN, UM MENSCHEN ZU QUÄLEN. DAS ESSEN KANN ÜBERMÄSSIG GEWÜRZT, FLÜSSIGKEITEN KÖNNEN ZU HEISS SEIN. IM DREISSIGJÄHRIGEN KRIEG WANDTEN SÖLDNER DES SCHWEDISCHEN HEERES DEN SCHWEDENTRUNK AN. DEN OPFERN WURDEN MIT EINEM TRICHTER JAUCHE, URIN, KOT ODER ABWASSER EINGEFLÖSST. DIE FLÜSSIGKEITEN VERÄTZTEN DIE SPEISERÖHRE DER GEFANGENEN, VERURSACHTEN ERSTICKUNGSANGST, MAGENSCHMERZEN UND ERZEUGTEN STARKE EKELGEFÜHLE. IM MITTELALTER WURDE LÜGNERN GESCHMOLZENES BLEI IN DIE KEHLE GEGOSSEN. ANALOG VERWENDETE MAN AUCH SIEDENDES ÖL ODER HEISSES PECH. MÜTTER, DIE AM MÜNCHHAUSEN-STELLVERTRETER-SYNDROM LEIDEN, QUÄLEN IHRE KINDER MIT ÜBERWÜRZTEN,
VERDORBENEN ODER UNGENIESSBAREN SPEISEN ODER MISCHEN DEN WEHRLOSEN KLEINEN BRECHMITTEL ODER ABFÜHRMITTEL INS ESSEN.
»Du sollst das essen!« Matthias Hase versetzte Isolde Semper einen weiteren Hieb. Er mochte das Geräusch, wenn die Handfläche die feiste Wange traf.
»Das werde ich nicht tun. Und wenn Sie noch so oft zuschlagen!« Die dicke Frau in dem Sessel kochte vor Wut. Er konnte es an ihrer Stimme hören. »Außerdem habe ich Sie heute Mittag im Supermarkt gesehen!«
»Na und? Ich habe Käse gekauft, Sie Fleisch. Glauben Sie, irgendjemand bringt uns miteinander in Verbindung?« Matthias Hase ging um ihren Stuhl herum und betrachtete das hochrote Gesicht. Isolde Semper hatte die Lippen fest zusammengepresst und schnaufte empört. Wahrscheinlich überlegte sie, was als Nächstes passieren würde. Er nahm ihr gegenüber Platz, blendete das Schnaufen aus und dachte nach.
Er hatte viel Mühe in die Vorbereitungen investiert, hatte diesen abnorm fetten Kater hinter der Thuja-Hecke mit einem Stück Räucherlachs in die Falle gelockt und war dann stundenlang mit dem Auto herumgefahren. Alles nur, damit die Alte Zeit hatte, zu realisieren, dass ihr Liebling nicht wiederkam, auch wenn sie noch so lange auf der Terrasse nach ihm rief. Wie ein weiches, warmes Tuch hatte die Dämmerung sich über die Reihenhaussiedlung gelegt und alle Farben gelöscht, bis nur noch ein mattes Grau übrig war. Erst als die ersten Sterne am Nachthimmel aufblinkten, war Matthias Hase losmarschiert, den in einer Reisetasche versteckten Tragekäfig in der Hand. Der Weg hinter den Gärten war stockfinster. Obwohl er zweimal fast gestürzt wäre, war die Dunkelheit
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