Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
unvorstellbaren Ausmaßes, die wie apokalyptische Rasiermesser über sie gekommen waren. Weite Landstriche, in der Erinnerung üppig grün und blühend, hatten sich in deprimierend trostlose Wüsteneien verwandelt. Erst als wir die Küste hinter uns ließen und ins Landesinnere vorstießen, nahmen die Ausmaße der Zerstörung ab.
Das alte Kelvin, bei unserem ersten Besuch im Gegensatz zu Hyperion noch überraschend intakt, zeigte sich jetzt komplett verwüstet. Ich sah düsterste Erwartungen bestätigt. Das Meer war bei seinem Vormarsch nicht zimperlich vorgegangen, es hatte die ganze Stadt fortgerissen. Wir fanden nur noch ausgewaschene Fundamente einstiger Häuser vor, spärliche Reste von Grundmauern, verräterische Vertiefungen und Mulden im von der Xyn wieder festgebackenen Erdreich. Weder die Reste von Craigs Gästehaus noch Ashrams Fischerhütte fanden sich. Nicht auf einen einzigen Überlebenden stießen wir, keine Seele weit und breit.
Verstört wanderten wir drei lebenden Relikte aus einer untergegangenen Zeit durch eine verschwundene Stadt, die nur mit mächtig viel Phantasie an so etwas wie eine erinnerte. Konnten wir uns verlaufen haben? Befanden wir uns am Ende noch gar nicht in Kelvin, sondern in einem unbekannten, schon vor Ewigkeiten aufgegebenen Dorf? Ich wünschte es wäre so gewesen. Doch Flagstaff Hill, Kelvins Hausberg, die nach wie vor höchste Erhebung weit und breit, bewies es unmissverständlich: wir waren am richtigen Ort.
Mein melancholischer Blick fiel auf Krister, der teilnahmslos dastand und ins Leere starrte. Er hatte sich wieder tief in sich zurückgezogen. Oftmals trottete er entgegen aller ehemaligen Gepflogenheiten weit hinter Luke und mir her, als trüge er tonnenschwere Last. Erst in Kelvin, angesichts des Ausmaßes der ganzen Zerstörung, löste sich seine sprachlose Verschlossenheit. Er stellte die von mir seit langem erwartete Frage, auf die ich keine Antwort wusste. Und mir war klar, sie würde weitere nach sich ziehen.
„Was wird mit Stoney Creek geschehen sein?“ Er fragte es mit einer Unschuld in der Stimme, welche schmerzhaft verriet, wie energisch er die Wahrheit zu verdrängen suchte. „Wird es zuhause genauso aussehen wie hier? Alles zerstört?“ Er drehte sich einmal im Kreis, die Arme in hilfloser Geste vom Körper abgespreizt. Tränen wellten in seinen Augen. „Alles ausgelöscht? Alles? Was ist mit all den Menschen? Mit unseren Familien, unseren Freunden... mit Sava?“
Der chaotische Blick verriet die Intensität, mit welcher ihm die Konsequenzen der Geschehnisse auf der Feuerinsel klar wurden. Wider besseres Wissens versuchte ich ihn zu trösten.
„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Es ist durchaus möglich, dass hier alles verwüstet ist und Stoney Creek trotzdem noch existiert. Du musst glauben, mein Freund!“ Ich dachte an meinen Vater, an Rob. Kein Kontakt. Totenstille. Eiseskälte.
„Dummes Geschwätz, mein Freund!“ höhnte Krister. Die irre Betonung des Wortes „Freund“ alarmierte mich. Tiefer Schmerz sprach aus ihm, ein Schmerz, der seine Stimme erbeben ließ. „Sie sind alle tot, nicht wahr? Du weißt es doch! Von Anfang an wusstest du es, stimmt’s? Dein sauberer Kumpan, dieser gottverfluchte Sentry, hat es dir doch bestimmt gesagt!“
Ich konnte nichts anderes tun, als ihn hilflos und traurig anzusehen. Vor diesem Augenblick hatte es mir immer gegraut. Ich wusste nicht, wie ich Krister einzuschätzen hatte, wenn er die Wahrheit herausfand, wenn er realisierte, welchen Preis er zu bezahlen hatte. Nun war es soweit.
„Warum sagst du nichts?“ Mir entging nicht, wie sich Kristers Hände zu Fäusten ballten. „Frag doch deinen ‚Freund’, vielleicht antwortet er für dich, er weiß doch sonst alles!“ Bedeutend leiser fügte er hinzu: „Bist du überhaupt noch ein Mensch? Der Mensch, den
ich
einmal einen Freund nannte? Einen verdammten, verlogenen Freund, der mich zum Komplizen an einem Massenmord gemacht hat?“
Seine Stimme überschlug sich und ging in beinahe unverständliches Winseln über. Wie paralysiert stand ich da, zu keiner Regung fähig.
„Warum sagst du nichts?“ Mit angespannten Muskeln und weiterhin geballten Fäusten näherte er sich einen weiteren Schritt. „Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen? Seit wann hast du mich nur noch benutzt? Wann hast du angefangen, die Vernichtung deines eigenen Volkes zu akzeptieren? Wann hast du Sava abgeschrieben?“
Ihr Name ließ unheilvolles Funkeln
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