Sephira - Ritter der Zeit 2: Das Blut der Ketzer (German Edition)
»Jean! Komm zurück, Jean!«
»Ich klettere hinunter!«, beschloss ich.
»Allein?« Giselle blickte mich entsetzt an. »Aber das ist Wahnsinn. Wir haben kein Seil und es gibt kaum etwas, woran du dich festhalten kannst!«
»Ich werde es trotzdem versuchen«, entgegnete ich. »Ich bin auf dem Schiff meines Vaters häufig auf den Mast geklettert, ohne ein Seil zur Sicherung zu haben. Vielleicht gelingt es mir, an ihn heranzukommen.«
»Dann sei vorsichtig und kehre um, sobald du das Gefühl hast, nicht weiterzukommen«, mahnte mich Giselle.
Ich nickte und trat zur Kante. Dort zog ich mir blitzschnell das Gewand über den Kopf, unter dem ich wie immer meine Männerkleider trug, dann machte ich mich an den Abstieg. Steine bröckelten unter meinen Füßen weg und polterten die Schlucht hinunter. Doch ich achtete nicht darauf. Ich konzentrierte all meine Kräfte auf meine Hände und suchte mit den Füßen beständig Halt.
Kaum zu glauben, dass ich damals, als ich das erste Mal mit Gabriel über die Dächer von Kairo gelaufen bin, Angst hatte!
Doch im Gegensatz hierzu war das damals ein Frühlingsspaziergang gewesen.
Nur sehr langsam kam ich voran, immer wieder glitt ich ab, musste aufs Neue Halt suchen.
Nach scheinbar endlosen Augenblicken erreichte ich endlich den Vorsprung, auf dem der Junge lag. So schmal, wie der Vorsprung war, mussten die Götter wirklich ein Einsehen mit dem Kleinen gehabt haben. Zumindest dachte ich das zunächst. Als ich ihn vorsichtig anhob, spürte ich, dasser sehr viele Brüche im Körper hatte und man ihn eigentlich gar nicht bewegen durfte.
»Giselle!«, rief ich, denn einfach auf meinen Armen würde ich ihn nicht wieder nach oben bekommen. Als das ängstliche Gesicht meiner Freundin über der Felskante auftauchte, bat ich sie, mein Kleid herunterzuwerfen. »Ich will ihn auf meinem Rücken festbinden.«
Giselle verschwand und nur wenig später segelte das Gewand in die Schlucht. Ich bekam es am Rock zu fassen, knotete ein Tragetuch zusammen und band mir den Jungen auf den Rücken. Meine Kräfte kamen mir sehr gelegen, als ich nach oben kletterte. Wo die Hände gewöhnlicher Sterblicher abgerutscht wären, fanden meine Halt, doch mochte ich auch stärker sein als eine normale Frau, so bereitete mir der Weg ziemliche Mühe – zumal ich auf den Burschen auf meinem Rücken achtzugeben hatte – aber schließlich zog ich mich über die Felskante.
Giselle strahlte, als sie mich erblickte. »Dem Allmächtigen sei Dank!«
Als ich mich erhob, löste sich Gestein unter meinen Stiefeln und landete mit Getöse in der Schlucht. Ich trat einen Schritt zurück und bettete den Jungen auf das Gras.
»Das ist der kleine Jean Romuald!«, rief Giselle erschrocken aus. »Sein Vater ist unser Stallmeister!«
Ich erinnerte mich an den Mann, der unsere Pferde in seine Obhut genommen hatte. Er war stets zurückhaltend und still, doch sein Wissen über Pferde kam dem arabischer Stallmeister gleich, was insbesondere Sayd für ihn einnahm.
Umso mehr schmerzte es mich, dass der Junge so schwer verletzt war. Die äußeren Wunden könnte ich mit meinem eigenen Blut heilen, doch die inneren ...
»Wie schlimm steht es um ihn?« Giselle sah mich seltsam an.
»Ich fürchte, sehr schlimm.« Ich blickte mich zu dem kleinen Mädchen um, das immer noch weinend hinter uns stand. Dann strich ich vorsichtig über den Brustkorb des Jungen. »Die Brüche seiner Rippen sind deutlich zu spüren. Wenn eine von ihnen die Lunge durchspießt hat, hat er nicht mehr lange zu leben.«
Giselle presste die Hand vor den Mund, dann blickte sie zu dem Mädchen, das unserem Tun mit entsetzter Miene folgte.
»Versprich mir bitte, mich nicht zu verraten«, platzte Giselle plötzlich heraus, flehend sah sie mich an, während sie ihre Ärmel aufschlug.
»Weshalb denn?«, fragte ich verwundert. »Was hast du vor?«
»Ich werde seine Verletzungen heilen. Schwörst du bei deiner Göttin, das, was du siehst, geheim zu halten?«
Ich nickte.
»Gut, dann kümmere dich um das Mädchen und sorge dafür, dass es nichts mitbekommt.«
So entschlossen hatte ich sie bisher noch nicht erlebt. Ich erhob mich und hockte mich zu Jeans Schwester ins Gras.
»Was ist mit ihm?«, fragte sie schluchzend. »Er wollte mir ein paar Blumen vom Rand holen. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht ...«
»Schsch«, machte ich und zog das Mädchen an meine Brust. »Es wird alles gut. Er ist nur müde und ihn schmerzen die Knochen. Giselle kümmert sich um
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