Sepia
listige Versteckspielerin, die gleichzeitig fürchten muss, dass keiner sie entdeckt. Einsam, kleinmütig. Zu alten Zeiten in Dresden würde sie, um wieder ins Leben zu finden, im Arnoldbad vom Zehnmeterturm springen, in der Frühe, bevor die Badegäste kommen, bevor der Arbeitstag im Botanischen Garten anfängt. Aus zehn Meter Höhe in einem Kerzensprung ins kalte blaue Wasser.
Im Dorf an der Katzbach war sie eines Tages in ihren Kleinkinderpantoffeln ganz allein über die schmale schwankendeKatzbachbrücke gegangen, drunten schäumendes Wasser, drüben auf der Wiese ein wütender Gänserich, eine händeringende Großmutter und alle schlesischen Nachbarn. Jesses Maria, Madl, Madl, Jesses. Der Großvater hatte plötzlich bei ihr gestanden, ihren Kragen gepackt. Das ist gefährlich, da kannste stürza, nunger ins Wasser, und plumps biste weg, hängst im Wehr, drehst unten an der Mühle über das Rad. Haste gehört?
Ja. Nicht fallen.
Genau. Und jetzt schaff die Gänsla ins Gatter.
Die Gänsla, die Herde, der gemeine Gänserich mit dem langen Hals, dem scharfen Schnabel, die mussten jeden Abend von den Katzbachwiesen nach Hause getrieben werden. Erst sind die Stellen am Bein, wo der Gänserich gebissen hat, rot, dann blau und zum Schluss lila und grün.
Pfingsten ist der Gänserich fort. Er war fett genug, sagt Heinrich. Die Gänsla sind schlau. Sie haben mit Eli ein Spiel angefangen, sie schwimmen ans andere Ufer, immer, wenn Eli kommt, sind sie auf der anderen Seite. Eli macht das Spiel eine Weile mit. Über die Brücke, mit einer Weidengerte, mit dem Rutenbesen, so weit ist sie schon. Nicht fallen, so was weiß Eli genau, sie weiß unterdes, dass die Gänsla den langen Rutenbesen am meisten fürchten. Sie fürchten den Besen mehr als Heinrichs Gebrüll.
Der Pförtner hat die Pförtnerloge im Haupthaus verlassen, das darf er nicht. Es stehen Filmbüchsen herum, und die Post liegt am Fenster, die Schlüssel hängen im offenen Schlüsselkasten, das Telefon, die Milchgeldkassette, der Pförtner muss die Ausweise kontrollieren, die eingeklebten Passierscheine, die jedes Halbjahr in der Polizeimeldestelle mit einem Stempel verlängert werden, erst der Besitz eines verlängerten Passierscheins gestattet das Betreten des Grenzgebietes oder des grenznahenRaumes. Er ist verantwortlich dafür, dass kein Unbefugter an seinem Pförtnerfenster vorbei das Gelände betritt. In dieser Sache muss er unerbittlich sein. Gastdozenten ohne Stempel müssen mit den Studenten neuerdings in die Fechthalle wandern oder in einen anderen größeren Raum außerhalb des Sperrgebietes. Der Gastmensch aus Leipzig kennt die hiesige Lage immer noch nicht, er ist in seiner weltfremden Art uneinsichtig und eine Kämpfernatur, weil er eine Wandtafel oder eine bestimmte Technik braucht, die in der Fechthalle nicht zur Verfügung steht, weil er überhaupt seinem Amt und Professorentitel entsprechend Entgegenkommen und Vernunft erwartet, wenn er schon mit eigenem Wartburg seit fünf Stunden unterwegs ist, und alle anderen lässig mit einem sogenannten Passierschein am Pförtner vorbeimarschieren. Nach seinem Vortrag im Stehen, ohne ein Stück Kreide, in einer fensterlosen total verspiegelten Turnhalle darf er nicht in die Mensa zum Mittagessen und nicht ins Vertragsbüro. Sein Honorar muss er auf der Straße auf dem Autodach quittieren.
Jedes scharfe oder gute Wort ist vergebens.
Der Pförtner besteht auf dem Passierschein mit einem aktuellen Stempel. Das ist das Allerwichtigste an der Sicherheit. Keine Ausnahmen. Er verscheucht die Fliegenschwärme, er klatscht die Wespen.
Auf den ersten Blick von der Straße aus gesehen ist das Grenzgebiet ein Idyll. Holunderbüsche, Berberitzen wie auf dem Dorf. Düfte wie im Sommer. Aber das Ufer zum See ist inzwischen vermint und mit Leuchtraketen bestückt. Das ist der Eiserne Vorhang.
Unter der offenen Haustür klemmt ein Holzkeil. Im Verschlag, wo der Pförtner seinen prinzipienfesten Tag lebt, der leere Lutherstuhl, das breitgesessene Sofakissen. Der tickende Wecker. Von der Deckenlampe herab hängt eine braune klebrige Schillerlocke, heute früh als Erstes aufgehängt, ein frischerFliegenfänger. Jemand hat Eli gesehen, vor einem Augenblick sei sie mit einem schweren Schreibmaschinenkoffer und Filmbüchsen aus dem Prorektorat gekommen. In einem buntgemusterten Rock.
Der Pförtner hat seinen Platz verlassen. Sie kann nicht weit sein. Der Pförtner trägt Eli einen braunen Brief hinterher. Die
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