Sepia
persönlich mal kurz in Deiner Bude vorbei.
Meine Mutter hat geschrieben. Wahrscheinlich lässt sie sich scheiden. Das darf ich hier aber nicht erzählen. Sonst läuft das römische Leben: Mann und Kinder wohlauf.
So kriechen Dank und neidische Sehnsucht auf krummen Postwegen hin und her.
Nicht zum wenigsten habe ich mich über die Blütenblätter zwischen den Zetteln gefreut. Danke für den Zitronenduft.
Ich hätte gern Pollaks Handschrift vor meinen Augen, hätte gern selbst ein bisschen in der Kiste gekramt. Dein Brief und ein Marmorsplitter aus dem Tauber-Garten liegen auf meinemTisch, wenn ich mir Mühe gebe und müde genug bin, gelingt mir die Wandlung. Ich bin in Rom. Ich schreibe das Kapitel ZUFALL und ZWEIFEL noch einmal ab, Siegfried hat mir seine Maschine geliehen. Meine ist ja mit Ludwig unterwegs. Ist das nicht wunderbar! Die Maschine macht mich zum Weltbürger, so denke ich mir, ich habe Besitzungen, wo immer die langen Läuferbeine hingehen, in Übersee oder vielleicht sogar in deiner Nähe, das könnte doch passieren: Italien, Rom. Meine bewegliche Habe profitiert von einem geliebten Geist. Unterdes sitze ich in warmen Socken am stabilen selbstgebauten Schreibtisch, ich mische die Kapitel neu. Deine Zettelsendung tut das meiste dazu. Am liebsten würde ich die Splitter aus Pollaks Leben original von deiner Hand einfügen, die Zettel sauber auf Pappe kleistern, sozusagen als Unterfütterung des Beweises. Weil ich selbst mich nicht von Musen küssen lassen muss. Ich bin befreit.
Liebe Erika, ich danke Dir für Deine große Hilfe. Ich bekenne, dass ich seit langem ein schlechtes Gewissen habe, Du hattest mich gebeten, Deine Eltern mal zu besuchen. Wahrscheinlich habe ich ein bisschen Schiss davor. Das soll aber keine Entschuldigung sein. Durch die bevorstehende Scheidung ist die Situation wohl noch heikler geworden? Wenn ich hier Luft habe, mache ich mich auf den Weg nach Halle, vielleicht zu Fuß.
Auf das Deckblatt gehört der Titel, der Zweck und der Name, auf Seite zwei darf eine Danksagung folgen. Eli rückt folgenden Text in die Mitte:
Der besondere Dank gebührt
meiner Seelenschwester Erika von Friedbrodt-Corani, Rom,
meinen Herzensfreunden Ludwig Zweig und Erwin Schubert, irgendwo in der weiten Welt,
meiner gütigen Stütze Siegfried Müller, Berlin, und der Bibliothekarin Herta Felber ebenso wie
meinen Großvätern Anton, Ost, und Heinrich, West, die mich nährten und kleideten, und nicht zuletzt
unserem mich allzeit streng fördernden Dekan, Berlin, Moltkestraße, Ministerium für Kultur.
Sie schreibt das Deckblatt und die Widmung mit sämtlichen Durchschlägen ins Reine, fügt zum Schluss noch einen Dank
6. an die Wolken hinzu. Vielen Dank für die stets anregende Begleitung.
Eli tippt ihren Namen und das heutige Datum.
An diesem Tag ist Großvater Heinrich, West, schon tot.
Eli erhält die Nachricht in einem Brief, den der Pförtner ihr mit langem Arm durch sein Fensterchen entgegenstreckt. Der Pförtner macht ein mitfühlendes Gesicht. Das sieht nicht gut aus, das rieche ich, sagt er.
Der Pförtner hatte richtig gerochen.
Der Umschlag enthält die Anzeige vom Hinscheiden des verwitweten schlesischen Landsmannes Heinrich Mann, des liebenden Großvaters, Imkerbruders und Hühnerologen. In einem Extrakuvert stecken Ausschnitte aus dem
Heimatboten
, das Brustbild des Verstorbenen, eine kurzgefasste Kondolenz des Vertriebenenverbandes und ein Zeitungsschnipsel:
Was sonst noch geschah
. Neubürger aus dem Leben gerissen. Auf einem Zettel ein paar Zeilen von Anton. Heinrich ist gestorben, man weiß nicht warum, er habe am Abend zuvor noch in der Nachbarschaft beim Dacheindecken von einem Lastenausgleichshäusl geholfen. So schnell kann es gehen, wenn du eigentlich was anderes machen willst als sterben. Die Asche von ihm steckt nun in einer Blechbüchse, und jetzt stell Dir vor, liebe Enkelin Rafaela, Heinrich will nicht auf den Kirchhofins Vertriebenenrevier, er hat sich in den Kopf gesetzt, dass wir seine Asche nach Osten schaffen, respektive an die Katzbach an seinen Geburtsort, in die dortige rote Erde. Als Erstes soll die Büchse nach Berlin gebracht werden. Von Berlin aus, so denken die drüben im Westen, ist es nicht mehr weit über die Oder-Neiße-Linie bis zum Ziel. Auf der Landkarte rechne ich 130 Kilometer.
Was sagst Du jetzt Rafaela? Ich verstehe nicht, erstens, dass Heinrich vor mir gegangen ist, und zweitens, dass er nun so was will. Trudchen schreibt, es war
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