Sepia
alles für alle eine Überraschung. Das plötzliche Hinscheiden von ihm und der Eigensinn, obwohl das über Generationen schon ein Mann’sches Erbteil ist, der Eigensinn, und Du, liebe Rafaela, hast auch davon und nicht nur das messingfarbene Haar. Trudchen glaubt, das neue Passierscheinabkommen kann helfen. Schreibe mir umgehend, was ich schreiben soll, ob Du bereit bist, die Asche zu übernehmen. Man muss einen Treffpunkt ausmachen in Ostberlin. Was schlägst Du vor, wo und wann? Mit der Post schicken geht nicht, weil Büchsen, wie Schusswaffen und Bücher, in Westpaketen verboten sind. Ich weiß nicht, ob Trudchen selber kommen wird, die mit ihrem orthopädischen Fuß.
Anton macht noch einige Anmerkungen zum Postgeheimnis. In der Systemzeit habe Anton daran geglaubt, wie an was Heiliges, einen fremden Brief liest man nicht, heute haben wir einen klaren Fall von Paketschnüffelei und Zensur, wo man mit Glück dran vorbeikommt. Anton erinnert in blumigen Andeutungen an das Taschenbuch in der Schogettenschachtel, erinnert an die Kompetenz, welche Heinrich in diesen Dingen besaß. Es ist sehr traurig und schade um ihn. Zu der Büchse mit seiner Asche wäre ihm gewiss was eingefallen. Vielleicht später in der Weihnachtssaison versteckt in einem größeren Westpaket, Geschenksendung keine Handelsware, mit wenig ängstlichen Knoten solide verschnürt in einem Knäuel Jackenwolleoder in einem Sack voll Reis, vielleicht mit einer schwedischen Zwischenadresse und dann auf der Schwedenfähre, vielleicht bis Rostock zu Dietrich Dubbert. Leider hat Heinrich keine praktische Idee hinterlassen, sondern nur sein Vertrauen, dass ihn auch als Asche das Glück begleiten und dass uns in seinem Sinne was einfallen wird.
Stillstand. Der Kalender stockt. Der Mai verharrt wie eine abgelaufene Uhr. Er will nicht weichen. Seit Wochen liegt in der Gartenecke, wo zu anderen Zeiten in der Nähe die Wildschweine hausen, eine vom Himmel gefallene Wolke, weiß, wenn die Sonne endlich untergeht, zeigen sich feine rosa Stiche, die Rhododendronbüsche blühen, unverwüstlich wie Sebnitzer Friedhofskunstblumen. Es ist das Tempo der Post und des Studienjahres.
Eli hat die farbigen Durchschläge sortiert, die Deckblätter, in gesperrten Buchstaben die Überschrift:
Mutmaßungen über Laokoon
. Versuche über Laokoon, wie Schubert ihr einstmals vorschlug, das hat für Eli keinen Klang mehr. Sie muss niemandem erklären, weshalb, und das ist traurig, vielleicht sogar gefährlich, wie ein Alleingang über die morsche Katzbachbrücke ohne Geländer. Ein Abenteuer.
Mutmaßungen, der Titel ist eigentlich geklaut von einem anderen Buch, einem im Westen veröffentlichten Roman oder einer Erzählung. Eli kennt nur eine Beschreibung, eine Rezension, ein paar Sätze daraus aus dem Radio.
Mutmaßungen über Jakob
, es geht um einen alten Eisenbahner, der verunglückt oder sich das Leben nimmt oder umgebracht wird, lauter Rätsel über das, was war und was geschieht. Rätsel wäre ein mögliches Beiwort zum Laokoon-Titel, statt der gestohlenen Mutmaßungen oder: Meinungen oder Ansichten, das geht in die Richtung. Mutmaßungen jedoch bleibt die einzig richtige Überschrift, die anderen würden höchstens Ersatz sein unddamit vielleicht den Diebstahl vertuschen oder gar aus dem Diebstahl eine Anregung machen. Eli klaut ehrlich und nicht ohne List, sie maust ein Wort aus dem Westen, ein nüchternes Wort für einen unverstellten Blick auf ein unergründliches Geschehen, die Kenntnis dieses Wortes, woher und überhaupt, müssen der Dekan und seine Beisitzer erst einmal zugeben, ehe sie ihr die unrechtmäßige Aneignung fremden geistigen Eigentums nachsagen können. Außerdem steht das Wort für jedermann zum Gebrauch im Duden, zwischen Mutlosigkeit und Mutter.
Eli trägt ihre fünf Durchschläge ins Prorektorat. Frau Gieram stempelt das Eingangsdatum auf die Mappen. Die Schreibmaschine stellt Eli, wie verabredet, im Stalin-Haus hinter den Sockel mit dem bronzenen Heinrich-Heine-Kopf.
An der Hauswand neben der Treppe in den alten Dübellöchern der im Keller abgestellten Marmortafel, die den Aufenthalt Stalins im August 1945 in diesem Haus bezeugt, hängt ein neuer Spruch, Holz auf Holz, geschnitzte Buchstaben.
Das Leben! Das Leben! Verflucht, darin liegt alles. Deshalb lieben wir die Kunst.
Eli mit leeren Händen.
Ich bin befreit: vom Kleinkaliberschießen und von der Kunst. Vom Wir zum Ich.
Eli fühlt sich erleichtert, doch mit pochendem Herzen wie eine
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