Sepia
der ihr stumm in den Weg tritt.
Oben am Haus unter den Bäumen haben zwei kleine schwarzbezopfte Mädchen ihr Spiel unterbrochen. Wenn Eli sich rührt, hört man ein Knurren im Bauch des Hundes. Der Hund duldet keinen Schritt. Nicht vorwärts, nicht rückwärts. Er duldet keine Bewegung, zu Stein soll die Fremde werden oder zu Luft. Die Kinder schauen ernst und verwundert zu, der Hund, die Fremde mit dem Rucksack, ihr Zögern, ihr Schwanken.
Eli hört vom Rain her das Klappern von Eimer und Milchkanne, das ist die liebenswürdige Melkerin mit den schwarzen Augen, den Lockenwickeln und dem goldenen Lachen. Eli kann nur hoffen. Die Kuh muss ja einmal leer gemolken sein, alle Milch aus der Kuh im Eimer, strudelnde Milch, auf dem Eimer eine Mütze voll Schaum. Schaum zum Versinken. Eli hört wieder das Knurren.
Als Eli aufwacht, liegt sie auf einem Sofa.
Die Mädchen, die Frau und ein Mann sitzen in gläsernerFerne um einen Tisch. Es riecht nach Wurst und Himbeersaft. Die Mädchen trinken aus Strohhalmen, bis das Glas leer ist. Eli hört zuerst das Schlürfen und Röcheln, die Stimmen der Kinder, dazu über dem Sofa das Ticktack einer Uhr. Eli sieht, wie der Gewichtzapfen der Uhr über den Zacken fällt. Seiger, das ist das Wort. Großvaters Wort für die Uhr in der Kammer. Aus den Augenwinkeln entdeckt Eli neben dem Sofa den Rucksack, sie rührt die Hand, tastet zärtlich, sie streichelt das folgsame Gepäck. Eli träumt, dass sie nicht aufwachen will, sie entscheidet sich im Dämmer zwischen der Seligkeit des Schlafes und dem Brot, der Wurst, den anderen Genüssen. Schlafen ist leicht, die Schmerzen verschwinden, der Hunger vergeht, und bald tönt von irgendwoher Musik. Vom Himmel kommt sie wohl nicht.
Das jüngere der beiden Mädchen hockt hinter einem Notenständer, ein Cello zwischen den Knien. Die Familie sitzt am abgeräumten Tisch. Wenn sich die Kleine verspielt, fängt sie von vorn an, mit finster entrücktem Gesicht, immer wieder den ersten Takt, manchmal gelangt sie fast bis zum Ende, sie blättert zurück, spielt den Anfang sehr schnell, molto presto. Die Eltern lauschen andächtig, das andere Mädchen rollt die schwarzen Augen, sie stöhnt. Eli liegt immer noch auf dem Sofa. Die Kletterschuhe hat jemand neben den Rucksack gestellt. Es ist eine Cello-Romanze von Mendelssohn Bartholdy. Es ist ein Idyll.
Mitten in der Nacht steht Eli in der stillen Stube am mondbeschienenen Tisch vor lauter köstlichen Sachen: Butter, Wurst, saure Gurken, geschnittenes Brot. Es ist wie im Märchen. Es ist wie im Kino, in Filmen wird in einer solchen Hungerszene das Brot zerfetzt, das gebratene Huhn zerrissen und gierig ins Maul gestopft, es wird gerülpst und geschlungen, selbst kampferprobte Leute, solche mit Bildung und Bewusstsein, können sich im Film nicht beherrschen, sie ersticken fast,lassen die Suppe aus den Mundwinkeln kleckern, weil sie zeigen müssen, wie außerordentlich hungrig, also dem Tode nahe, sie sind. Eli nimmt eine Brotscheibe vom Tisch, sie erträgt den wunderbaren Geruch nicht mehr, Räucherkammer, Gurkenfass, Kuhmilch, sie flüchtet mit dem Brot auf das Sofa, kaut erst ein Stück von der Rinde und schaut teilnahmsvoll zu, wie das Gewicht des Seigers fällt.
Die Cellospielerin heißt Nina, die große Schwester heißt Paula, der Hund heißt Zora. Auf Russisch geht die Verständigung gut. Tichi, Zora, ja lublju tebja. Sei still, Zora, ich liebe dich.
Die Kinder fahren mit dem Fahrrad in die Schule, zwölf Kilometer, das ist im Sommer kein Problem. Paula trägt die Cellokiste auf dem Rücken, die muss sie für die begabte Schwester transportieren, und auf die Launen der Kleinen muss sie achten. Wenn sie zu spät in die Schulstube kommen, ist Paula schuld. Die Eltern heißen Witek und Antonia. Sie kommen aus Galizien, dem Gebiet, das seit Kriegsende nicht mehr zu Polen, sondern zur Ukraine gehört. Antonia freut sich über die deutschen Exzellent-Büstenhalter, sie kann sich nicht entscheiden, ob schwarz oder weiß. Wybori, freie Wahl. Antonia deutet mit der Nase erst dahin, dann dorthin.
Eli schläft fünf Nächte auf dem Sofa der Familie Kupka. Bis Mittwoch, sreda, denn mittwochs kommt der Postbus, der Fahrer hält am Transformatorenhaus, man muss hingehen und winken. Er fährt über die Dörfer Kunzendorf, Pilgramsdorf, Probstein und weiter.
Eli erkennt die Brücke sofort, die Schafe am Ufer wie auf dem Spielzeugtisch, wie nach dem Gedächtnis in alter Ordnung hingestellt. Die Häuser im
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