Sepia
war?
Eli lümmelt in ihrem roten Sessel, fünfte Reihe, zwischen Projektor und Leinwand. Vergessen die Schulden aller Art. Auch die Angst schwindet. Sie denkt an Schubert und an den wandernden Jäger Ludwig, ob die Sanssouci-Ansichtskarte ihn finden wird. Und wo? Toska. Es ist wie am ersten Tag. Spannend und wunderbar traurig. Weltfern, selbstvergessen, wieim Mutterschoß. Eli im roten Sessel, fünfte Reihe. Der Film läuft.
Kunert sitzt in der ersten Reihe. Eli sieht seinen Kopf, den langen Hals, die etwas abstehenden Ohren, wie Muschelspangen für die langen, um die Schulter pinselnden Haare. Er ist ein Fanatiker, ein Alleswisser auf seinem Gebiet, auf Fakten gründend, kein ideologischer Schleimer. Ein Guter, findet Eli. Sie hofft, dass er nach der Vorführung, wenn sie sich bemerkbar macht, etwas durchblicken lässt über den Stand der Laokoon-Dinge. Eli wird frech nachfragen. Ungefähr: Ich bin jetzt mal neugierig, haben Sie bereits etwas Zeit gefunden, haben Sie in diesen Tagen vielleicht schon einen Blick hineingeworfen in meinen Text, in den Versuch, die Aufzeichnungen, in das mir am Herzen liegende Machwerk.
Eli hatte den
Nosferatu- Film
schon ein paarmal gesehen, immer mit sehr viel Schwarzfilm, mit gewagten Sprüngen und mutigen Schauplatzwechseln. Ein Geschehen, das von der Dramaturgie des Schlafes bestimmt wird. Herzbeklemmend modern, polternd wuchtig. Nicht wegzuscheuchen ein Schmetterling. Brechende Augen, das lernst du im Schlaf, du spürst auf der Stirn, wie der Wald rauscht, in den Schläfen pochen wortlos Anspruch und Klage aus Männermund. Immer wenn sie sich küssen, wacht Eli auf. Der Projektor rasselt. Es ist der Todeskuss und der Schlusskuss und der Abspann. Zelluloidgeruch, Silbernitrat. Aus dem Loch in der Wand weht ein kalter Hauch, das Jenseits flattert, die Vergangenheit, ein stummer Seufzer, tödliche Leidenschaft. Die Leinwand wird dunkel, und im Saal geht das Licht an.
Kunert ist gegangen.
Wieder hat Eli während des
Nosferatu- Films
geschlafen, pflichtvergessen und träge.
Wieder hat sie den berühmten Schnittfehler verpennt. Das Schulbeispiel für alle, die im Filmschnitt was lernen wollen.Die klassische Szene für Gedankenübertragung beziehungsweise die Darstellung der Macht der Liebe im Stummfilm. Einfach wieder verpennt. Stichwort Parallelhandlung. Die junge Frau, räumlich weit entfernt von ihrem jungen Gemahl, ringt in Ahnung der Gefahr, die ihrem Angetrauten im Augenblick droht, ihre Hände. Sie streckt die Hände nach rechts, gleichsam in die Zukunft, sie hätte die Hände aber nach links strecken müssen, in die grade gesehene, beängstigend lange weilende Gegenwart. Gedächtnis und Sehnsucht verlangen einen linken Blick.
Das meiste geschieht im Dunklen, und der Mensch sieht die Resultate. Daraus bezieht der Film seine Spannung und das Leben seine Überraschungen, das Leid und die Freuden.
Eli hätte längst jubeln dürfen.
Während sie endlich aus der Müdigkeit herauskriecht, während der Asphalt unter den Straßenlampen schauernass glänzt, während weder Autos noch Fußgänger weder Mensch noch Tier unterwegs sind, selbst Kater sind zur Stunde nicht gern auf den Pfoten, während der Himmel immer noch an einer leichten Wolkendecke trägt und der Mond dieser Tage ganz im Schatten steht, während auf dem Grenzstreifen am Ufer die üblichen, normal bemannten Kübelwagen im üblichen Zeittakt patrouillieren, somit eigentlich nichts auf märchenhafte Auftritte oder höhere Erscheinungen hindeutet, Allnacht, langweilig, ewig, wie immer und scheinbar! unwandelbar, Eli, gemütlich im roten Sessel, währenddessen, man kann sagen genau parallel zum kunterbunten, schnell vergessenen Traumschlaf, sind die Schicksalsmächte in höchster Aktion.
So was lernt man im ersten Studienjahr. So was weiß man. Die Ereignisse laufen parallel. Parallel, im Kreis oder in Spiralen oder in Fraktalen.
Der Pförtner sagt: Eli, du bist wieder mal die Letzte.
Gute Nacht, Kurt, sagt Eli.
Eli quert die Straße. Es ist nur ein Sprung vom Hauptgebäude zur Tauber-Villa. Ein zweiter Sprung die Treppe hinauf bis unter das Dach.
Nicht erschrecken.
Es ist Ludwigs Stimme. Er ist es. Lulu, Lula.
Trotz Schießbefehl. Fangdraht und Sprengminen. Trotz sieben Meter hochgetürmtem Beton. Er hält Eli im Arm. Er trägt sie, weil ihr die Beine versagen. Sie hängt an ihm. Sie riecht durch die Jacke, das Hemd seine Haut.
Rumtreiber, sagt Eli, du elender Rumtreiber.
Was denn sonst, sagt Ludwig. Wie
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