Sepia
schnarrt die Sperre. Das Signal für den Nächsten. Durchtreten. Wegtreten. Weiter.
Wir wollen die Goldene Brücke bauen. Wer hat sie denn zerbrochen? Der Goldschmied, der Goldschmied mit seinen sieben Töchterlein. Kommt alle herein, kommt alle herein, der Letzte soll gefangen sein! Mit Spießen und mit Stangen, so wollen wir ihn fangen. Der Erste nicht, der Zweite nicht, der Dritte soll gefangen sein.
Die Ohren klingen.
Schnarren. Weitergehen. Ludwig geht weiter. Durch die Vorkontrolle und die Kontrolle und durch den Zoll. Die Treppe hinauf. Zum Bahnsteig. Er drückt mit dem Locher ein Loch in die kleine Pappe, stanzt das Gültigkeitsdatum in die Fahrkarte, die Berechtigung, in Stundenfrist an den sogenannten Bestimmungsort zu fahren.
Weil einer an dich denkt, deswegen klingen die Ohren. Oder bei Schluckauf. Die kluge Mama lächelt und tröstet vom Himmel herab, wenn Tränen rollen.
Eli bittet den Taxifahrer, der nun schon fünfunddreißig Minuten auf die Rückfahrt wartet, um noch einen Augenblick Geduld. Sie hofft, dass der Mann nicht abhaut, denn er hat jasein Geld schon in der Brieftasche. Er hat versprochen zu warten. Eli starrt auf die S-Bahn-Brücke über das kanalisierte Wasser zwischen dem letzten Bahnhof im demokratischen Berlin und der Häuserzeile, die eigentlich auch noch im Osten liegt. Sie hört, wie sich ein Zug in Bewegung setzt, sieht die S-Bahn-Wagen, wo Ludwig hoffentlich drin sitzt und gewiss in einem Reclamheft liest. Ludwig liest immer in einem Buch, wenn er mit einer Bahn fährt. Sein Gesicht sieht dann wie ein Rätsel aus, wie der Mühlenteich. Und wohin wollen wir denn?
Wollen wir denn über das Meer? – Warum doch gerade in diese Richtung, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften – Oder?
Weiter laut Lebensplan. Sonntag 14 Uhr. Eli und Ludwig stehen sich gegenüber. Eli auf dem Balkon des Stalin-Hauses. Ludwig am Gegenufer in einer mannsbreiten Schneise, rechts und links niedergetretenes Schilf.
Es braucht keine Worte, die sagen, dass man nach dem Abschied, dem letzten Blick auf das Fingerlein, dem letzten Blick auf einen Trenchcoatkragen wieder glücklich gelandet ist.
Man sieht es ja. Über 100 Meter hinweg, die Luft ist klar, der Himmel südlich, unendlich blau.
Bist du allein?
Ja.
Niemand im Haus?
Nein.
In Ordnung. Und sonst.
So weit.
Ja oder nein.
So weit so Ja. Am besten, du schweigst und richtest dir eine Bleibe mit dem Rücken an der warmen Wand zum Beispiel.
Später, ziemlich überraschend, Finsternis, dazu, genau amPlatze, artig funkelnde Lichtpunkte, Sterne, vermeintlich beständige Himmelskörper, die in Wirklichkeit im Weltall herumrasen wie gehetzte Hasen. Eli verlässt den Balkon, den Seminarraum. Im Vestibül muss man den Schlüssel hinter dem Bronzekopf von Heinrich Heine verstecken. Die Außentür fällt einfach ins Schnappschloss.
Eli ist nicht müde, aber ihre Arme sind vom Überkopfwinken schwer. Eli hatte zwischendurch an Anton einen Brief schreiben wollen, Ludwig hatte ein Buch hochgehalten, dann wieder mit beiden Händen in seiner ganzen Länge gewinkt. Verrückt wie ein Clown. Damit Eli sich kaputtlacht. Besser wäre die Verständigung mit dem Fahnenalphabet gewesen, das Eli immer noch perfekt beherrschte, man kann lange Sätze signalisieren, aber leider, Ludwig hätte die Fahnen weder winken noch lesen können.
Eli steigt unter das Dach, sie schläft ohne Müdigkeit mit offenen Augen, sie starrt in den Himmel. Lichtpunkte sonder Zahl und irre Gedanken. Ich suche dir eine Hütte im Wald.
Oft hat Eli von Italien geträumt. Nicht von Erika, sondern von Zitronenbäumen. Zikaden, weil die Zikade ein Wundertier ist, ein Symbol für Unendlichkeit und für den glücklichen Augenblick. Zitronen, Goldorangen, weil man das Land, die Bodenverhältnisse, das Klima kennen muss, wenn sie blühen und glühen und Früchte tragen sollen. Italien, das ist Fortgehen und Bleiben. Elbflorenz. Wer diesen Namen sagt, der weckt Sehnsucht und stiftet gleichzeitig Heimweh nach der Ruine der Frauenkirche. In Dresden kennt man die Sehnsucht nach Italien wie nirgends sonst. Sie brennt seit alten Zeiten, seit mehr als fünfhundert Jahren. Renaissance, Barock kommen aus dem sonnigen Süden. Bauwerke, Malerei und Musik. Das Fernweh lodert heute wie gestern, besonders heute. Besonders, wenn Ludwig schlechte Sachen über Rom erzählt.
Weitere Kostenlose Bücher