Sepia
die Nerven zu verlieren. Die musst du behalten und Mensch bleiben. Kurt, verstehst du, einfach Mensch bleiben.
Wie denn?
Darüber reden wir später.
Hast du schon gesehen, dass deine Urkunde nicht mehr oben bei den Pokalen hängt, die ist ab.
Doch schon lange, Kurt.
Und warum?
Darüber reden wir später.
Frau Gieram hat Urlaub. Der Prorektor ist auf einer Prorektorenkonferenz. Eli lugt der neuen Schreibkraft über die Schulter, ob sie auf dem Tisch irgendetwas entdecken kann, eine Notiz, ein Schreiben, eine Benachrichtigung. Ob etwas Gelbes in den Ablagefächern liegt, eine Mitteilung vom Dekan, meist schreibt er auf zartgelbes Büttenpapier.
Ich soll mich hier melden, sagt Eli.
Da kann ich dir leider nicht helfen.
Das Mädchen tippt eine private Gefälligkeit in die starke Büromaschine. Fünf Durchschläge.
Das Gartenfest
. Ein Theaterstück von Václav Havel. Das hat Jürgen von einer Pragreise mitgebracht. Vom
Theater am Geländer
. Das will der rastlose Jürgen mit den Schauspielstudenten inszenieren.
Futter ist Futter, und Erbsen sind Erbsen. Ein neues Leben? Verdammt noch
mal, das wäre möglich!
Ende des ersten Aufzugs. Dunkle Bühne. Zweiter Aufzug. Eingang zum Garten, in dem das Gartenfest des Amtes für Auflösung stattfindet.
Das Mädchen tippt mit flinken Fingern. Sie kann keine Auskunft geben.
Sonst aber hat Eli Glück. Im kleinen Vorführsaal läuft
Nosferatu
. Kunstgeschichte-Kunert hat nichts dagegen, wenn Eli bleibt. Kunstgeschichte-Kunert übernimmt im nächsten Jahr Filmgeschichte. Die Filmbüchsen unter der Treppe, die hat Kunert aus dem Archiv kommen lassen. 52 Stunden Stummfilm. Kunert ist ein wortkarger Mensch, kein richtiger Lehrer, aber jemand, der eine riesige private Sammlung von Dias besitzt. Gemälde, Buchillustrationen, meisterhafte Fotos von Skulpturen. Die wirft er in den Stunden, während er die Studenten zu unterhalten hat, an die Wand, manchmal fährt er mit einem Zeigestab eine Diagonale, oder er weist auf ein besonders farbkräftiges Detail, kreist ein und sagt mit hoher zufriedener Kinderstimme: Da haben wir den weißen Fleck. Er legt den Zeigestab auf den Tisch, schiebt sein langes dünnes Haar hinter die Ohren, steht lang und dünn hinter dem Diagerät und macht zwei Stunden weiter. Am
Nosferatu -Film
hat er noch zusammen mit Erwin Schubert gearbeitet. Kunert hatte belegen können, dass die in Transsylvanien spielenden Szenen des Films im tschechischen Oravsky hrad gedreht worden waren, und Schubert hatte eine Verbindung zu Franz Kafkas Roman
Das Schloss
zuerst nur stark vermutet, dann aber, nach wiederholtem Lesen und nach Erkundungen in seinen Berliner Kreisen, herausgefunden, dass Kafka im August 1921 einen Ausflug an diesen Ort unternommen haben könnte. Für beide, den Dichter und den Regisseur, gewiss ein faszinierendes Terrain. Ein Schauplatz. Wahrscheinlich ein magischer Ort. Abgesehen davon war Kafka ein Kinogänger. Ein Stummfilmbesucher. Das Kino und Kafka, Kafkas Kamerablick. Schubert undEli hatten dermaleinst, in jenen längst vergangenen Winternächten, nach klangvollen Titeln gesucht und schließlich das Beste, das Stärkste, von Glühwein besäuselt, in Elis Merkbuch notiert. Die K-Perspektive, Tiefe ohne Psychologie, Ästhetik der Fläche. Disparate Gedächtnisbilder. Sie hatten sich ins Ohr geflüstert, dass sie bald mal zusammen in die Tatra fahren werden, im Sommer oder im Winter, mit einem Goralenschlitten aus dem Hochtal noch höher in die Berge, um das Skifahren zu probieren, um das Schloss zu suchen. Wir würden das Schloss besichtigen, dann abends im Dorf vor einem Kamin den Text noch einmal von der ersten Zeile an lesen.
Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee.
Schon wieder ein Schloss, hatte Eli gedacht, doch mit Schubert ging es nicht um ein Liebesabenteuer, sondern um Fähigkeiten und Erkenntnisse. Sieht nicht schon der Buchstabe K wie eine drehbereite Kamera aus, das gespreizte Stativ, der Apparat. K wie Kamera. Das K taugt mindestens als Symbol für Kameras oder für Kino.
Der Dekan hatte ohne Erklärungen einfach nur gewarnt. Kafka, jetzt. Nein, noch nicht. Die Zeit sei nicht reif. Wenig später hatte er eingelenkt und grünes Licht gegeben. Man hing in Zügeln, spürte die Vorsicht des Wagenlenkers, seinen Weitblick, er kannte die Klippen und Kurven. Stopp, er wollte das Gefährt auf sicherem Weg halten. Stopp.
Der Dekan schubst und bremst.
Ob Schubert in Hildesheim unterdes Kafka-Spezialist geworden
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