Sepia
ganz laut wie ein Kind im finsteren Wald.
Das sind die Nerven, sagt Fahrer Uwe.
Der Lkw aus Wittenberge verlässt die Autobahn. Ein kleiner Umweg aus Gefälligkeit. Eli kramt im Rucksack. Knoblauchduft steigt in die Nasen.
Der Lkw saust über den Telegraphenberg, biegt ab, rumpelt am alten Bahnhof vorbei. Die Strecke ist grade noch lang genug, um die polnische Wurst wegzuputzen, dazu etwas Brot. Alles mit gutem Appetit und mit der Rede über Zibulka. Eli kann erzählen, dass er wahrscheinlich mit der Augenklappe bloß angeben und etwas finster aussehen will. Der Lkw-Fahrer schüttelt dazu, wie eigentlich zu allem, was er hört, den Kopf und schnappt nach den Brocken, die Eli ihm in den Mund schiebt, leckt ihre Finger, Elis süßen Zeige- und Mittelfinger, nach der polnischen Wurst noch Honig aus dem Honigglas. Man will es nicht glauben. Der Fahrer schüttelt den Kopf.
Habe ich mich eigentlich für den Apfelsaft in der Görlitzer Kneipe bedankt?, fragt Eli.
Nicht der Rede wert. Gern geschehen. Anderntags ist ja da noch groß was los gewesen. Johannisfest.
Ich hab’s gesehen, die Girlanden und Lampions.
Irmgard hat es nicht leicht, sie muss den Laden alleine schmeißen, alles, erst war es HO, jetzt gehört der Laden zu Rotation, das Gehalt ist schlechter, aber Flaschenbier ist immer auf Lager. Dafür haben die Sportler gesorgt.
Der Lkw hält vor der feriendunklen Tauber-Villa.
Eli steigt aus. Sie hievt den schweren Rucksack auf die Schulter.
Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.
Nicht der Rede wert.
Doch doch, sagt Eli, solche hilfsbereiten Leute wie Sie, denensollte man einen goldenen Punkt auf die Stirn malen, wasserfest, damit man sie gleich erkennt. Auf Wiedersehen, und passen Sie gut auf sich auf!
Den Abschiedsgruß hatte Eli in einem Montagsfilm gehört, der Gruß hatte ihr gefallen.
Der Gruß gefällt auch dem Lkw-Fahrer Uwe aus Wittenberge. Er ist gerührt, und er wird den Gruß weitersagen, wenn ihm jemand am Herzen liegt. Pass auf! Nicht auf dein Geld oder auf deine Jacke, nein, auf dich selber. Er schüttelt den Kopf, weil er wieder mal verwundert ist. Irmgard, pass auf – nicht auf Schlüssel und Bleistifte, sondern auf dich, pass auf,
dass dein Fuß nicht möge gleiten.
Er hat jetzt das letzte Ende vor sich. Er fährt nicht mehr auf die Autobahn, er fährt nun nur noch Landstraße, aus lauter Vergnügen, weil das Leben auch im Dunkeln seine guten Seiten haben muss.
Hinter dem Eingangsportal wird Eli von einer einsamen und hungrigen Katze empfangen. Es stinkt nach Hausputz, Katzendreck und Zeitung. Bohnerwachs klebt auf dem Treppengeländer. In Elis Bude sind die Dielen geölt, die Fenster geputzt, der Papiereimer ist leer, frische Wäsche liegt auf dem Bett, der Stuhl steht ausgerichtet vor dem Tisch, darauf liegen die Briefe. Frau Klatte, die Kehrfrau, verteilt in den vorlesungsfreien Wochen die Post in den Häusern der Studenten. Damit sich die Sachen nicht beim Pförtner stapeln. Er braucht Umsicht, Blickfreiheit, er hat Anweisung, im Sommerquartal Sicherheitsstufe drei, verschärfte Ausweiskontrolle.
Frau Klatte legt die Briefe fächerförmig auf den Tisch. Für Eli drei Stück. Eli liest und erschrickt. An Fräulein Rafaela Reich die Milchgeldrechnungen, eine zweite Mahnung und auch gleich einen Pfändungsbescheid. Sehr geehrte Studienfreundin Rafaela Reich, wir haben uns veranlasst gesehen, denVorgang Milchgeldrückstände dem Gericht Potsdam Stadt, Gerichtsgebäude Hegelallee, zur Eröffnung eines Pfändungsvorganges zu übergeben. Termin: sofort. Mit sozialistischem Gruß, Versorgungseinrichtung Getränke Potsdam Nord.
Eli wirft die Post auf das Bett, deckt das Kopfkissen über die Versäumnisse. Lächelt, fällt um und schläft. Nicht, weil sie die Sache eine Nacht ruhen lassen, nicht weil sie im Schlaf eine Lösung finden will, sie schläft, weil ihr die Sinne schwinden, Stunden, bis in den nächsten Nachmittag hinein, kaputt, vergiftet: das Blei in den Adern, von Kopf bis Fuß in tiefer Narkose.
Zuerst Licht, später die Wahrheit.
Nachmittagssonne steht im Fenster. Eli setzt den eisernen Dreifuß auf einen Stuhl.
Sie muss sich besinnen, sie muss herausfinden, was geschehen ist. Barfuß über Stoppelfelder, aber dann müssten die Nächte kalt sein. Mindestens die Nächte, dagegen spricht das Feuer, die Hitze, der Schweiß. Angstschweiß. Eli wirft nach langer Reise und tiefem Schlaf endlich die Sachen vom Leibe. Eine Klette in der Jacke und Stroh, polnischer
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