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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Frage und Antwort, aber da ist keine Frage. Also keine Antwort. Wort. Einzig Wort und Wesen.
    Ludwig wird nicht bleiben. Nicht für immer und nicht bis morgen, nicht einmal eine Stunde. Darüber kann man nicht reden. Sonst wären die wenigen Minuten umsonst. Die wenigen Minuten dürfen nicht umsonst sein. Also sucht Eli festen Halt. Die Füße tragen. Es sind nicht tausend Küsse, es ist ein einziger Kuss. Eine Einverleibung. So bin ich bei dir, so gehe ich mit dir.
    Ich komme mit. Sagt Eli und weiß, dass sie damit zwei oder drei himmlische Sekunden verschluckt, hinunterschluckt. Schwächezeit. Bald. Bald. Bald. Was ist das für ein Wort. Keinwort.
    Ludwigs Stippvisite im Osten. Eine unerhörte Geschichte.
    Das sind die einzelnen Schritte: Ludwig hatte sich als Erstes eine Adresse in Westberlin besorgt, Pass, Wohnsitz, sogar eine halbe feste Arbeitsstelle bei der
Komödie am Kurfürstendamm.
Dann hatte er eine gewisse Zeit verstreichen lassen. Das Frühjahr, den Frühsommer, er sei manchmal nach Zehlendorf und weiter bis Moorlake und zum Böttcherberg gefahren, bis zum See und habe vom freien Ufer her das Terrain mit dem Stacheldraht, das Stalin-Haus samt Balkon und Terrasse beobachtet,er habe sich einen Feldstecher zugelegt, und, er möchte schwören, er habe Siegfried Müller gesehen. Auch die Bibliothekarin sei ihm einmal vor das Glas geraten und ein paarmal Eli. Er habe sich eingebildet: Eli. Eli. Croce e delizia al cor. Eli winkend. Eli unter einem Baldachin. Sie winkt mit zwei kleinen Fahnen, manchmal auch nur mit der rechten Hand, die linke hält sie über die Augen, weil sie etwas entdeckt, erkennt, weil sie signalisiert: Ich habe dich erkannt.
    Einmal sei er an der schmalen Uferlichtung einem Förster begegnet, einem winkenden Förster, da habe er sich eingestehen müssen, Eli winkt immer, sie winkt dem Förster, dem Wind, immer, wenn sich gegenüber am Westufer etwas regt. Sie winkt mit bloßem Auge und aus Prinzip.
    Schließlich sei er in Steglitz zur Passierscheinstelle geeilt, dort habe er einen Verwandtenbesuch beantragt. Er habe ganz auf den Lichtenberger gesetzt. Er kenne ihn nicht, aber das weiß ja keiner. Als Ehemann seiner verstorbenen Mutter sei der laut Regelbestimmung und Melderegister unbedingt sein Stiefvater. Seit dem Passierscheinabkommen zwischen Ost und West konnte man als Verwandter aus humanitären Gründen zu besonderen Anlässen einen zeitlich befristeten Aufenthalt im demokratischen Berlin geltend machen.
    Dem Antrag zum Besuch des Stiefvaters aus Anlass seines 70. Geburtstags war stattgegeben worden. Gültigkeitsdatum 7. August bis 0:00 Uhr.
    Die Welt machte Witze.
    Es war irre. Ein Wagnis. Das Papier, der Stempel, die Unterschrift des Ministeriums, die Berechtigung, das konnte genauso gut eine Finte sein. Eine Falle.
    Falls es eine Falle war, hat sie am Mittag beim Passieren der drei Kontrollfenster, der nachfolgenden Sperren und Visitationen nicht funktioniert, oder sie sollte so früh noch nicht zuschnappen. Alles zu seiner Zeit.
    Ludwig tippelt wie die anderen Tagesbesucher geordnet – möglichst unerschrocken, dabei demütig und höflich –, geraden Blicks ohne Sonnenbrille an finster geschulten Uniformen vorbei.
    Druckerzeugnisse?
    Keine.
    Und was ist das?
    Reclam, Leipzig, Gerhard Hauptmann,
Die Weber
.
    Was wollen Sie damit?
    Lesen.
    Einstecken. Weiter.
    Vielleicht will man die Falle noch offen halten bis zur Geisterstunde um Mitternacht, bis zur Verweigerung des sogenannten Rückreisestempels.
    Ludwig ist durch. Die Dame mit Trauergebinde ist durch. Zwischen Ludwig und Dame ein kumpelhaftes Augenzwinkern, unvermeidliche Heiterkeit nach unverhofft glücklicher Landung.
    Trotzdem, Ludwig bleibt auf der Hut, wenigstens bis er draußen ist, auf der Straße, in der Stadt. Am Schaufenster von Briefmarken-Schaubek wartet er ab. Zivile Verfolger rechts und links, die müssen erst einmal ins Leere laufen. Der Rücken muss frei sein, keine Augen im Nacken. Ludwig muss Orientierung finden. Im schönen Sommertag. Er zieht den Trenchcoat und den warmen Pullover aus.
    Mit den Sachen über dem Arm, den Sportbeutel über der linken Schulter, so läuft er nun über die Weidendammer Brücke. Leichtlebig. Eigensinnig locker. Ein freier Mensch, vogelfrei, gelandet, gestrandet im großen heimatlichen Käfig. Wo alte Bekannte herumschwirren, Berliner Mittelstreckenläufer, frühere Schulkameraden. Der Dramaturg vom Deutschen Theater, der für Nachwuchs verantwortliche Mitarbeiter aus dem

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