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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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15 Mark in der Tasche. Damit fährt sie mit der S-Bahn von Potsdam zum Bahnhof Zoo, also mitten hinein in den Goldenen Westen. Mit dem Ostgeld kauft sie sich im
Gloria
eine Kinokarte für Alain Resnais’
Hiroshima, mon amour.
Eli ist hingerissen. Eine Erweckung. Wenn das Schubert wüsste. Das sollte er wissen. Vielleicht weiß er es, vielleicht ist er einer von denen, wie Erika. Ein süßer Geheimnisträger. Ein satter Verräter. Vielleicht passt das alles zusammen. Balzac und Resnais. Und Bertolt Brecht. Weil Eli vergessen hat, in Potsdam für Ostgeld eine Rückfahrkarte zu kaufen, kann sie nicht mit der S-Bahn zurück nach Hause fahren. Sie wandert die langen Straßen, Hardenberg oder Kant. Nach so viel heimlicher Kunst ist es gut, zu gehen. Sie wandert durch den Grunewald. Grenzen überschreitend. Nicht nur in Kohlhasenbrück über die Brücke des Teltowkanals, wo man politisch aus dem kapitalistischen Westen wieder ins östliche Deutschland spaziert, sondern auch in Gedanken. Man geht nie geradeaus, wohnt nicht nur auf der Erde, ist auch im Himmel zu Hause oder irgendwo dazwischen. Eli denkt an die Weinreben und die drei kümmerlichen Augen. Die ganze Zeit geht ihr das schwarze Holz nicht aus dem Kopf. Während dieser neue wunderbar andere Film lief, hat sie Stimmen gehört. Lass dich nie wieder blicken. Der Chef vom Depot findet keine Worte. Die Lehrlinge feixen. Die berühmten Terrassen. Verhunzt. Friedrich der Große von oben herab: Wer war das?
    Weil sich niemand meldet, hört man den König verdammt königlich grollen. Perdu. Mein ganzes schönes Sanssouci.
    Pardonnez-moi. Das hatte Eli als Krabbelkind unter dem Tisch aufgeschnappt. Von Heinrich, dem anderen, dem schlesischenGroßvater, dem sie als blutarmes Kriegskind ins Nest gesetzt worden war, der hatte Honig und Hühnereier und konnte seit seiner Gefangenschaft im vorigen Krieg französisch parlieren. 1916/17 Verdun. Pardon wird nicht gegeben. Rien ne va plus. Der schlesische Kuhbauer hätte dem preußischen König Widerwort geben können. Allons enfants de la Patrie. Le jour de gloire est arrivé.
    Eli auf nächtlichen Wegen. Dort, wo der Teltowkanal in den See mündet. Man muss vorsichtig sein. Muss achtgeben, muss horchen, dass man nicht plötzlich vor einer Wildsau steht, die suchen jetzt im Finstern mit ihren Frischlingen nach Futter. Ganze Rotten sind um diese Zeit hier unterwegs. Eli bricht sich einen Knüppel, damit drischt sie gegen die Kiefernstämme, das gibt erschröckliche Geräusche und Mut. So machen es die kasachischen Bärentöter. So schlagen sie wildes Getier in die Flucht. Wenn jetzt ein Jeep mit Grenzposten käme, wäre Eli ein mutiger Waldgänger, ein Sternengucker oder jemand, der prüfen will, ob die Holunderbeeren schon reif sind. Leider noch nicht. Die Dolden sind immer noch grün und, meine lieben bewaffneten Grenzwächter, in diesem Zustand giftig, während später die schwarzblauen Beeren eine köstliche Suppe geben. Holunder mit Birnen, Grießklößchen. Noch vierzehn Tage, dann ist es so weit.
    Du musst es nicht sehen, du fühlst, ob die Beeren reif sind. Man riecht es. Schwarz und süß.
    Lauter gute Gründe, um nachts unterwegs zu sein.
    Einwandfreie Argumente.
    Oben rechts, also über dem Schäferberg, also im Westen, da ist um diese Stunde das Sternbild des Hasen. Daneben, heute sehr klar zu erkennen, Herkules mit der Keule. Wer redet, hat recht. Wer geht, kommt vom Fleck.
    Halt, stehen bleiben. Was treiben Sie in der Nacht im grenznahen Raum?
    Ich wandle schlaf.
    Wer sind Sie?
    Eine Schlafwandlerin.
    Eli muss sich nicht fürchten. Wenn notwendig, holt sie sich nachträglich ein Attest. Erikas Zweitverehrer, Richter, ein Chirurg aus dem katholischen Krankenhaus, verschreibt alles. Vitamine, Schönheitssalben, Krankentage und Krankheiten. Schlafwandeln, Schlafgelegenheiten. Vor allem Befreiungen. Wenn du befreit werden willst. Richter befreit.
    Das Indiz, die Kinokarte, hat Eli am
Gloria
weggeworfen. Fort mit Schaden.
    Der Knüppel knallt wie ein Schießgewehr. Drei Schläge gegen den Stamm. Holz auf Holz. Das macht Mut, das hält die Geister im Zaum.
     
    Ein dünnes rotes Licht steht im Fenster.
    Erika, bist du noch wach?
    Eli klinkt leise die Tür auf. Das rote Kuscheltuch hängt über der Leselampe. Spärliches rotes Lernlicht. Gute Vorsätze. Schüsselchen, Tellerchen, eine Semmel und Kinderbrei stehen auf dem Sofatisch. Doch dann war der Abend mit einem überraschend eigenmächtigen Galopp in die Nacht

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