Sepia
beiden einig. Man muss schlau sein. Das Gewissen ist teilbar. Das Geheimnis ist endlich. Es hat seine gemütliche Stunde.
So kommt es Eli von den Lippen, dass sie nach dem Eignungsgespräch für die Schule, einfach beim Herumwandern durch die Berliner Straßen, ohne Plan, wie auf den Schildern steht: den demokratischen Sektor verlassen habe. Sie sei einen ganzen Tag im Westen herumspaziert. Westkreuz, Westend. Gesundbrunnen. Das ganze verbotene Paradies.
Zum Schluss habe ich im Obdachlosenasyl am Nordbahnhof übernachtet.
Kenn ich, sagt Erika, man muss früh um sechs die Schlafdeckeabgeben, bekommt eine Tasse Tee, dann wird man rausgeschmissen.
Das Geständnis ist wie eine Umarmung. Eli rennt hoch, um ein Paar Schuhe herunterzuholen. Sieben-Zentimeter-Pfennigabsätze, Champagnerfarbe. Ich habe sie noch niemandem gezeigt. Anton in Dresden hat keine Ahnung, weder von der Übernachtung im Asyl noch von den Schuhen. Ich hatte sie zwischen den Sprungfedern im Sofa versteckt.
Eli redet vom alten Sofa in Dresden, und jetzt liegen die Schuhe oben im Schrank zwischen den Handtüchern.
Du bist ja gar nicht so fromm, sagt Erika. Sie betrachtet die Schuhe auch von der praktischen Seite: Die kannst du doch sonntags anziehen. Dann erklärt sie, wie sie das trickst mit Rom. Sie fliegt. Von Westberlin nach Frankfurt am Main und von dort nach Rom. Alles mit Studententarif und auf Studentenausweis. Übernachtung im Studentenheim. Allerdings, diesmal wird sie bei Alfredo wohnen.
Warst du denn schon oft in Rom?
Dreimal, sagt Erika und erzählt erst einmal viel von der Ewigen Stadt, den Vatikanischen Museen, dem Kolosseum und dem Forum Romanum, ausführlich von den Katzen im Circus Maximus und dann mit roten Ohren von den Studenten im Heim der Ursulinerinnen, bis Eli es kapiert. Enrico. Er ist ein römischer Knabe. In diesem Jahr wird der Römer Alfredo seinen Sohn zum ersten Mal in die Arme schließen.
Das größte Geheimnis der Natur ist die Liebe. Man müsste Worte finden. Oder Melodien.
Eli kommt sich wie neu vor, schaumgeboren, aufgetaucht aus dem Brunnen der naiven Frühzeit, reif, schlank, schlau, ausgekocht, bereit für alle möglichen Abenteuer. Sie würde gerne bis morgen früh weiter mit Erika über all die Sachen reden. Entschlossenheit. Mut. Enrico schläft, dieser süße, fuchshaarige, erdbeergesichtige Italiener. Metamorphose, denkt Eli.Das ist die innere Wandlung. Jedenfalls ein Schritt voran. Es gibt Momente, da lernt man das Leben kennen. Genau wie durch Balzacs Romane. Oder besser. Höhen und Tiefen, vor allem aber Höhen. Grenzen sind dazu da, dass man sie überschreitet. Wein wird Blut. Idee wird Tat. Einmal habe ich lauter Zitronenjährlinge in der Stadt verteilt, die müssten eigentlich jetzt schon blühen. Eli erzählt, was sie angestellt hatte, um die Zitronen vor den Dresdner Winterfrösten zu retten und Tobias vor seinen Verfolgern. Tobias, der fromme Sohn eines blinden Vaters.
Erinnerungen. Geschichten. Die stehen auf einem anderen Blatt oder gar in einem anderen Buch. Es bleibt noch eine Menge zu tun.
Kühle Balzac-Tage. Dann endlich südliche Hitze, römische Temperaturen. Der Juli blüht dem Ende entgegen. Eli arbeitet in Sanssouci, wenn sie Zeit hat, wenn sie Geld braucht, darf sie sich im Parkdepot beim Chef melden. Es gibt immer viel zu tun. Der Wein in den Terrassen vor dem Schloss muss zurückgeschnitten werden. Hier ist die Schere, da ist die Karre. Zurückschneiden, das ist eine heikle Sache. Eigentlich etwas für Spezialisten. Drei Augen lässt du stehen. Mehr Worte macht der Obergärtner nicht. Man nimmt sein Werkzeug und geht seiner Wege. Eli ist gelernte Zierpflanzengärtnerin, seit einem Jahr Studentin, als solche, um diesem einen Erwin Schubert zu gefallen, mit dem bürgerlich-kritischen Realismus des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac befasst.
Nur Mut, Rafaela. Feigheit gilt nicht. Eins, zwei, sie setzt die frisch gewetzte Schere akkurat hinter das dritte Auge. Schnipp. Die gewundenen Gehänge sinken. Alles fällt. Übrig bleibt kahles schwarzes Holz. Hinter dem Schnitt ein spärliches Blatt. So muss es sein, auch wenn sie von den Sanssouci-Besuchern beschimpft wird. Das sieht ja aus wie gerupft. Ja, manchmal muss die Natur wie gerupft aussehen, sonst würden hinter unseremRücken die Bäume in den Himmel wachsen. Die Wege, die Anlagen, die ganzen schönen Künste würden verschwinden. Trotzdem, schimpfen die Leute, vorher und früher war es besser.
Am Abend hat Eli
Weitere Kostenlose Bücher