Sepia
gesprungen, über den Hunger, den Wissensdurst hinweg in den Schlaf. Die Tagdecke liegt auf dem Tagsofa. Erika, noch in ihrem weißen Tagkleid, liegt mit angezogenen Knien, das Gesicht halb im Kissen vergraben. Ihr Körper schafft eine gemütliche kleine Höhle, darin schläft der Knabe, im Kleinkindertraum nuckelnd und lächelnd, die friedlich geballten Fäuste an beiden Ohren. Wie es draußen die Besiegten erst lernen müssen. Hände hoch. Über seinem rötlichen Haar ruht ein schützendes Kelchblatt. Erikas Tintenfinger, ihre im Schlaf zuckende Hand. Reflexe des gestrigen Szenenspiels. Gespannt, elektrisiert. Non gradireste ora le danze? Hättet ihr jetzt nicht Lust,zu tanzen? Vielleicht der Nachklang. Vielleicht Rom, gestern und morgen. Finale Ultimo.
Der Arm des Plattenspielers war von allein in die Ausgangsstellung zurückgesprungen.
Eli schaltet den summenden Lautsprecher aus. Die schwarze Schallplatte ruht auf dem Plattenteller. Die bunte Hülle liegt auf dem Stuhl. Maria Callas. Ein sanfter Nacken mit schwarzem Haarknoten, seitlich als Schmuck eine rote Kamelie.
La Traviata
. È strano, è strano.
Erika weiß, was sie will. Zum Telefonieren spaziert sie mit dem Kindersportwagen zur Post. Sie meldet ein Gespräch nach Rom an. Nach Rom geht es schnell, schneller jedenfalls als nach Berlin. Es dauert höchstens eine Stunde.
Komm doch mit, Eli, höchstens eine Stunde.
Für Eli ist es ein Abenteuer, der Gang zur Post und dort eine Stimme von sonst woher, Italien, Rom.
Eli spielt mit Enrico, während Erika telefoniert. Manchmal nimmt Erika ihren Sohn mit in die Telefonkabine im Schalterraum. Hinter der schmalen schalldichten Doppelglasscheibe kann Eli ihre Freundin mit dem Kleinen auf dem Arm beobachten, Eli kann sehen, wie Erika in die Muschel hineinredet, wie sie das Kind anstachelt, damit es einmal richtig laut lacht, wie Erika selber lacht und angestrengt zuhört.
Wollen Sie auch ein Gespräch anmelden? Die Postfrau hinter dem Tresen stellt mit ihrem Apparat Verbindungen zum Fernamt her, wenn sie eine Verbindung hat, verbindet sie weiter.
Ich warte auf meine Freundin, sagt Eli. Das kann dauern, sagt die Postfrau.
Eli hat noch nie mit jemandem telefoniert.
Großvater Anton in Dresden hat kein Telefon, auch die Nachbarn haben keines, und Heinrich im Westen, der hat weder Telefon noch Nachbarn, die ein Telefon haben und Heinrichrufen könnten, wenn die Enkelin Rafaela aus dem Osten anruft. Man muss schreiben oder hinfahren, wenn man was wissen will oder etwas mitteilen möchte.
Um zu Heinrich zu fahren, da müsste Eli Schliche kennen wie Erika. Und auch Mut und Geld haben, denn die Schliche kosten Geld.
Studententarif, das ist Erikas Zauberwort. Auf Studentenausweis kannst du für dreißig Ostmark von Tempelhof nach Hannover fliegen.
Dreißig Mark. Geld ist eine Frage der Zeit. Balzacs Romane fressen viele Stunden. Ein Rest bleibt für Sanssouci. Für Eli gibt es dort immer etwas zu tun. Das zweite Studienjahr vergeht viel schneller als das erste. So sagt Erika, so sagen die anderen.
Der kleine Enrico bekommt die Dreifachimpfung. Erika ist stolz, stell dir vor, er sitzt mit Erfolg auf dem Topf. Auch Eli ist guter Dinge. Die Weinstöcke in Sanssouci, die sie in Obhut hatte, haben meterlange Ranken und sehr viel Laub, sogar Trauben kann man naschen. Eli ist sehr erleichtert. Sauer macht lustig.
Mit Leiter und Korb hockt Eli versteckt hoch oben in den königlichen Rhododendronbüschen.
Die anderen Parkgärtner stellen neuerdings ein Kofferradio an ihrem Arbeitsplatz auf. Manchmal arbeitet Eli mit ihnen zusammen, dann hört sie Musik, aber meist arbeitet sie allein, dann hört sie die Vögel, den Pirol im Nachbarbusch, oder die Menschen, die sich auf den Parkbänken ausruhen. Redselige Spaziergänger. Meist reden die Leute über andere Leute. Wenn sie ihre Meinung ausgeplaudert haben, klettert Eli die Leiter herab: Sie brauchen nicht zu erschrecken. Ich bin kein Bär.
Manchmal lässt Eli von oben ihre Stimme tönen. Manchmal passt der Moment. Wenn sich die zu kurz gekommeneFraktion einer Trauergemeinde in die Haare gerät. Eli hat an dieser Stelle am Sabinerinnenrondell schon einige neue Ulbricht-Witze gehört. Oder Sachen über Bautzen. Bautzen ist höchstens auf dem Atlas eine Stadt. Bautzen ist ein Gefängnis. Die Leute reden und reden, als weilten sie in einem schönen grasgrünen ohrenlosen Wald.
Ich bin kein Bär, ruft Eli, oder: Ich beiße nicht. Die Spaziergänger erschrecken oder
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