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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Sachen. Der Kleine liegt unterdes draußen im Kinderwagen. Man sieht, wie der Wagen sich manchmal bewegt. Das heißt, Enrico ist wach, er strampelt, er wedelt munter mit einem roten Nuckellappen. Die Windel, die gegen Insekten schützen soll, hat er heruntergerissen. Aber er muss jetzt schlafen, sagt Erika. Sie sitzt auf dem Fensterbrett. Sie redet über das Szenenstudium, ein Stück von Heiner und Inge Müller muss sie noch lesen, und Enrico muss älter werden, muss laufen lernen und Zähne kriegen.
    Erika hat für Enrico eine Wiegekarte und einen Termin bei der Mütterberatung. Historische Dramaturgie und Französisch muss sie nächste Woche nachholen. Da braucht sie noch Scheine.
    Das schaffst du, sagt Eli.
    Und erzählt ihrerseits, dass sie noch im August ein Praktikum im Leuna-Werk »Walter Ulbricht« anfangen wird. Der Dekan will es. Mit ihrer Arbeit im Gartenbau sei sie zwar Angehörige der Arbeiterklasse, aber eigentlich doch mehr ein Bauer, das heißt noch nicht Arbeiterklasse genug. Eli soll noch näher ran an die herrschende Klasse. Ab nach Leuna.
    Der soll mal stille sein, sagt Erika. Als wüsste sie noch mehr Sachen über den Dekan. Als hätte sie außer dem, was alle schon wissen, noch einiges auf Lager. Vier Jahre Studium, da kennt man das Leben. Eli lauscht. Bei Erika kannst du was lernen. Auch ein bisschen das Fürchten.
    Erika lässt immer die Tür einen Spalt auf.
    So hört sie beim Lernen im leeren Haus die alten Geister, Klavierspiel, Tonleitern, Knacken im Holz, ob Enrico in seinem Kinderwagen endlich wieder schläft, ob Eli nach Hause kommt. Historische Dramaturgie, noch einmal von vorn. Aristoteles. Nach ihrem Charakter sind die Menschen so oder so beschaffen, nach ihren Handlungen jedoch sind sie glücklich oder das Gegenteil. Peripetie ist der Umschlag von Handlungen in das Gegenteil und dies in wahrscheinlicher oder notwendiger Weise. Glücklich oder das Gegenteil. Das hat Eli bereits gelernt. Erika will es sich merken, denn sie braucht solche Sätze für die Abschlussprüfung in Theatergeschichte.
    Eli erkundet die Umgebung. Sie fährt mit dem Rad. Sie war sogar schon in Caputh im Einsteinhaus und im Garten des Philosophen und Pflanzenzüchters Foerster. Das Leben ohne Phlox ist ein Irrtum. Dieser Spruch steht auf einer Holztafel im Eingang zu seinem berühmten Garten.
    Eli klopft leise an Erikas offene Tür. Weil es regnen will, hat sie die Wäsche von der Leine abgenommen. Sie prüft an der Stirn, ob die Sachen trocken sind. Sie flüstert, weil sich der Schreihals Enrico in seinem kunterbunten Wäschekorb endlich beruhigt hat. Er schläft wie eine Seerosenknospe.
    Das ist eine geschenkte Stunde. Eli zeigt ihre Bücher, die sie sich aus der Bibliothek im Keller des Stalin-Hauses besorgt hat. Es ist wunderbar und zum Verzweifeln. Erwin Schubert hat gesagt, wer die Romane und Novellen von Balzac gelesen hat, der weiß, was das Konkrete im Allgemeinen ist, der findet sich zurecht in der Widerspiegelungstheorie. Man spricht vom Pakt zwischen dem ICH, das ich bin, und dem ICH, das ich sein werde. Erika hat für dicke Bücher jetzt wenig Zeit.
    Sie hören den Karfreitagszauber aus der Oper
Parsifal
und noch einmal Schumann, die Klaviersonate Nr. 1. Und dabei hört Eli Erikas Geheimnis. Wenn Enrico alt genug ist, reisen wir nach Rom.
    Nach Rom, das kann Eli überhaupt nicht fassen, denn der Westen ist den Studenten total verboten. Von wegen Kino drüben in Westberlin im Palast am Zoo oder am Steinplatz, womöglich mit Eintrittskarten vom Stipendium, also von Arbeitergroschen. Wenn das rauskommt. Man riskierte eine Exmatrikulation. Es muss ja nicht rauskommen, denn es gibt ja in den S-Bahnen keine Kontrollen. Nur den Ausweis muss man manchmal zeigen. Wer ganz vorsichtig sein will, kann zum Beispiel mit dem Fahrrad zum Wannsee fahren und dann weiter mit dem Bus ins Zentrum. Wer sich gar nichts traut oder wie Siegfried Müller ein Heiliger ist oder jeden Pfennig zusammenhalten muss, bleibt zu Hause. Eli hat kein Geld und ist fast eine Heilige.
    Warst du denn noch nie im Westen?
    Doch ja, vor ein paar Jahren, schwarz, bei Opa Heinrich in der englischen Zone, wo der Treck aus Schlesien hängengeblieben ist. Elis Lippen zucken, das Herz hätte jetzt was auszukippen über den alten Heinrich, aber der Mund macht es kurz. Jetzt geht das nicht mehr, erklärt sie, man wird an der Grenze eingefangen, zurücktransportiert oder eingesperrt.
    Direkt mit der Eisenbahn, da hängst du im Netz. Da sind sich die

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