Sepia
Behälter für nützliche, manchmal eitle und schöne Gedanken.
Eli schaltet die Leselampe an, sie schließt das Fenster wegen der Mücken und Nachtmotten, die in den Pappeln wohnen.
Sie muss sich bei Anton wenigstens für den Umschlag mit den zehn Mark bedanken und auch noch einmal für die Jacke. Die Jacke passt und schützt. Ich habe sie an, wenn ich studiere. Ein kurzer freundlicher Gruß auf einer Postkarte. Sie schreibt wie eine, die unter der Adresse zwar einen Verwandten, aber kein Bett mehr hat. Das Nest ist kaputt, Frau Vogel ist frei. Sie pfeift sich mitten in der Nacht ein trotzig tröstendes Lied. Sie vergibt dem Zerstörer, denn jetzt hat das Leben und Streben noch mehr Sinn. Vogelfrei, was kostet die Welt, das ist hier die Frage. Genauer gesagt: Wie viel kostet ein Schlafsack. Mit einem Schlafsack bist du überall zu Hause. In Dresden, in Rom und, wenn es sein muss, in Leuna. Fahrrad, Schreibmaschine und Schlafsack.
Anderntags liegen die Astern noch vor Erikas Tür. Kein Kinderwagen unten neben der Treppe, keine Windeln auf der Leine. Eli wundert sich. Sie ahnt etwas. Sie kapiert, was geschehen ist, als sie im Flur hinter einem Pappkarton das Radio entdeckt. Erikas REMA Trabant, das Netzteil, die Schnur mit dem Stecker zusammengewickelt obendrauf, daneben der Plattenspieler mit der Plattenkiste. Hingestellt für Eli. So war es ungefähr ausgemacht. Kein schriftlicher Gruß, wenn ich fliege, nimmst du, solange ich weg bin, mein Radio.
Erika ist also auf Reisen. Samt Enrico ausgeflogen. Eli kann Platten hören oder Radio. Das Sonntagskonzert. Wenn sie will, ganz laut, dass die Musik durch das Tauber-Haus tönt und die Beklommenheit vertreibt und die Tatkraft beflügelt.
Eli nimmt die Steckdose neben ihrem Bett, vielleicht die von der Nachttischlampe des Kammersängers. Eine Tauber-Steckdose aus weißem Porzellan.
Das Radio ruht weich auf dem Internatskopfkissen. Erikas REMA Trabant. Ein Kofferradio, jetzt mit Netzteil betrieben. Von der Friedrichkirche am Weberplatz läutet die Glocke. Es ist zehn Uhr. Gottesdienst und Nachrichtenzeit.
Der Nachrichtensprecher verkündet den Bau eines antifaschistischen Schutzwalls rings um das Land und um den Demokratischen Sektor, die Hauptstadt Berlin. Übertritte werden nicht mehr geduldet. Friedensstörer werden bestraft. Der Sprecher endet. Ein Kinderchor singt. Eli liegt neben dem Radio, sie hört die Kinderstimmen. Sie kennt den Text. Ein Lied vom wunderschönen Tag. Die Sonne lacht uns so hell, und wie ein lichter Glockenschlag grüßt uns die lockende Ferne. Ziehn nicht die Wolken so schön und leuchtend am Himmel entlang? Und über Wald und weite Höhn jubelt der Lerche Gesang. Uns sind die Herzen so frei. Die Kinder jubeln den Refrain. Eli dreht am Senderknopf. Die Skala hat keinen erhabenen Merkpunkt wie Siegfrieds REMA Trabant. Musik und Stimmen. Jetzt auch aus dem Radio wie vorhin vom Weberplatz das zum Sonntag gehörende Geläut. Eine Sprecherin beendet das feierliche Dröhnen. Sie hörten zuletzt die Glocken der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zu Berlin. Der Nachrichtensprecher fällt ihr ins Wort. Der Osten wird abgeriegelt. Eine andere Stimme gerät dazwischen: Panzer stehen schussbereit, Soldaten sind mobilisiert. Überall an der Grenze wird Stacheldraht ausgerollt. Es sind Reporter, die von verschiedenen Plätzen Originalton senden. Atemlose sprechen und weinen. Eine Expertenrunde schaltet sich ein. Das ist eine neue, die Welt verändernde Situation. Die Sowjetunion hat ihren Einflussbereich mit Waffen gesichert. Wird es zum Krieg, die Experten sagen: zu militärischen Auseinandersetzungen, kommen? Die Folgen wären für beide Machtblöcke unabsehbar, auf jeden Fall aber katastrophal. Ich sage Nein. Sagt der Experte.
Die Sowjets handeln. Wo ist der Amerikaner? Der Präsident ist zum Angeln gefahren. Es ist Urlaubszeit.
Wie lange wird der Wahnsinn dauern?
Solange es die beiden Blöcke gibt.
Drei Monate, dann geht der Osten in die Knie.
Sieben Tage, dann ist der Spuk vorbei.
Krisen dauern sieben Tage. Dann ist das hier vorüber, und es wird woanders verrücktgespielt, in Asien oder Kuba.
Eli steckt die welken Astern ins Wasser. Jetzt wohnt sie allein in der prächtigen Tauber-Villa mit den Pappeln und dem großen wild gewordenen Garten. Die Holzpaneele, die Treppen knarren. Sand knirscht auf den Marmorfliesen unten im Flur. In den Kassetten der Haustür bröckelt die rote Farbe, darunter Braun, darunter Grün, der helle Holzgrund, die
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