Sepia
politisch?
Entweder über Schildow oder über Schönefeld. Mehr wissen wir nicht. Schildow und Schönefeld, das sind ja richtige Reisen,Weltreisen, rings um die westliche Stadt. Ein Schildbürgerstreich. Einfach Blödsinn. Das ist gegen den Viermächtestatus. Das ist Willkür. Eine Krise dauert sieben Tage. Die Großmächte müssen sich einigen. Die Russen müssen einlenken. Es sammeln sich immer mehr Leute. Manche haben kein Radio gehört und heute noch mit niemandem gesprochen. Was ist denn hier los? Eli erzählt einem Ehepaar, was sie im REMA Trabant von Erika gehört hat. Sie denkt an Erika. Vielleicht ist sie jetzt schon in Rom. Und was das wohl bedeuten mag, diese Verletzung des Viermächtestatus. Großvater Anton ist an so einem schönen Wochenende gewiss in die Sächsische Schweiz gefahren. Hat oben auf dem Affenstein übernachtet und in den Himmel geguckt in Richtung Perseus, weil es dort grade wieder staubt. Kometenstaub. Sternschnuppen. Wünsch dir was. Wenn er runterkommt vom Affenstein und hört, was los ist, wird er sagen: Das kenne ich schon. Sechzehn Jahre Frieden, das gab es selten. Wahrscheinlich ist es so weit. Der Osten dreht sich selber den Hals um.
Und Heinrich? Der schleudert Honig, oder er karrt seine Bienenvölker in die Heideblüte, oder er ist angeln gegangen wie der amerikanische Präsident John F. Kennedy. Abwarten, das ist seine Devise. Wie es kommt, kommt es.
Und Ludwig? Warum Ludwig? Immer, wenn Eli das Herz schwer ist, denkt Eli an die Großväter und manchmal an den Assistenten. Bruder Schubert. Oder an Ludwig. Liebling Ludwig. Einmal hat sie geträumt, da ist sie an einem Seil vom festen Ufer zu einer ziemlich fernen Felseninsel gesaust. Das Seil hing an einer Rolle, die wie ein geölter Blitz über ein Laufseil flitzte, das zwischen Ufer und Felsen festgemacht war. Eine kurze und schmerzlose, etwas abschüssige Reise. Es gab keinen anderen Weg, keine Wahl, nur diesen Haltegriff. Ein todesmutiger Anlauf. Dann Zuversicht. Spannung zwischen den Schulterblättern, ungeahnte Kräfte. Wahrscheinlich Reste vonFlügeln, die unter diesen Umständen zur Entfaltung kommen. Ein Engelsflug. Eine weiche Landung vor einer Sandbank in lauwarmem Wasser. Eine süße Begegnung. Schubert in Badehose. Ein Dreieck aus rotem Tuch. Sein imponierender Delphinsprung. Bewunderung. Kraftringe auf dem Wasser zeigen den Ort des Verschwindens. In der Mitte der Ringe tauchen Hände auf, dann schwarze Haare, die mit einem sportlichen Kopfschwung aus dem Gesicht geschleudert werden. Wasserperlen fliegen. Ludwig, der Spaßmacher. Komm, du Seelchen, ich bin der Klabautermann. Schwimmen. Das Ufer rückt in die Ferne.
Felsen, plötzlich kann man die Steine mit der Hand berühren. Eine glitschige Wand.
Kraftringe um Ludwig. Er hat ein Exposé geschrieben. Die erste Fassung, die Charaktere haben schon deutliche Konturen. Eine Hauptrolle für Helene Weigel. Man spürt den Atem der Geschichte und Ludwigs Begabung.
Ludwig, du reitest auf einer Bulette! Schuberts kritische Anmerkung.
Eli hatte gelacht, sie hatte nicht gewusst, was er Ernstes damit sagen wollte. Siegfried hatte Eli erklärt, Schubert meine den Konflikt. Ludwig habe noch keinen tragfähigen gesellschaftlichen Konflikt gefunden.
Den hat er nun, denkt Eli. Jetzt kann er loslegen. Tragisch und komisch. Dialektisch, also alles verkehrt herum. Anders oder wie gehabt. Lauter Königskindergeschichten, tiefe Wasser, erloschene Lichter, Nornen und Sturm.
Man muss auch das Gute sehen. Durch so eine bewachte Sperre wird Alice nicht aus dem Westen zurück nach Dresden kommen können. Die liebe Seele von Anton hat endlich Ruhe, seine stille Hoffnung, eines Tages werde Alice dort drüben bei der Schwester, den Nichten und Neffen, etwas sächsische Heimat, und wenn es nur die Elbe ist, fehlen, eines Tageswerde sie wieder Lust haben auf eine Wandertour mit Anton durch das Tal der Kirnitzsch. Diese Hoffnungen sind nun zu einem Häufchen Asche zusammengesunken. Ein dicker Strich. Schluss. Aus der Traum. Das Kapitel Alice hat damit ein Ende gefunden. Man kann verzeihen und heulen. Das Gute kann schmerzlich sein und neidisch und schwarz.
Die Holunderbeeren sind bald reif, hinter dem Tauber-Haus klemmt ein kleiner Busch in der Mauer, nicht zu vergleichen mit den üppigen Büschen an der Grenzstrecke am Teltowkanal.
Eli sucht im Tauber-Terrain, was sonst noch übriggeblieben ist. Verkrüppelte Stachelbeersträucher. Aufgeplatzte Beeren. Hagebutten. Juckpulver. Eine leere
Weitere Kostenlose Bücher