Sepia
uralte Zeit.
Ein Hochsommersonntag. Eli wäre jetzt ratlos oder verzweifelt genug, sie würde jetzt zu Ludwig gehen oder zu Erwin Schubert, sie würde anklopfen, sie würde vor der Tür stehen. Wie angewurzelt. Der Assistent Schubert wie angewurzelt. Ludwig wie angewurzelt, wie ein angewurzelter Harlekin. Alle wie angewurzelt. Fliegen geht nicht. Dafür sind wir Menschen nicht gemacht. Am Stalin-Haus ist die Welt noch wie früher, jedenfalls wie gestern. Einfach schön. Von Grenze keine Spur, obwohl die Teilungslinie genau durch den Griebnitzsee verläuft, diesseits Häuser und Bäume, drüben nur Wald.
Eli gelangt durch die Außentür in den Kohlenkeller. Von dort zur Wirtschaftstreppe. Das ist der Sonntagsweg. Der Schlüssel zur Bibliothek liegt im Treppenflur hinter der Bronzeplastik, dem jugendlichen Kopf des Dichters Heinrich Heine. Ein Rest des Ausstattungsinventars von Stalin. Aus seiner Zeit. Der Kopf steht auf der Konsole des großen Spiegels genau in der Mitte. Ein Versteck, das jeder kennt, weil die Bibliothekarin meint, auf Studenten muss man sich verlassen können,sonst würde gar nichts funktionieren, vor allen Dingen kein Sozialismus. Der Schlüssel liegt hinter dem Heine-Kopf, damit wir auch sonntags und in den Ferien Bücher ausleihen können. Eli schreibt einen Zettel. Entnommen einmal
Vater Goriot
. Eli.
Ein Blick aus der ersten Etage vom Balkon des Mahagonisalons, der herrlichen Stätte der Montagsseminare. War je so viel Täuschung. So viel Blendlicht. So viel Nichts als Natur. Und Zusammengehörigkeit zwischen Ufer und Ufer. Bäume sind Bäume. Einzig der stille Seespiegel deutet an, was wahr ist. Hier fährt ab heute kein Boot mehr, kein Schiff passiert ab heute den Teltowkanal und so auch nicht diesen See.
Im
Gloria
, unserer Frontstadtspielstätte, läuft immer noch
Hiroshima, mon amour
. Heute 17 Uhr. Ohne Eli, ohne Zuschauer aus dem Osten. Den Schiebern und Spekulanten wird ab heute das Handwerk gelegt. Es ist deren Schuld, dass es so weit kommen musste. Eli, es ist deine Schuld, du hast die Arbeitergroschen in die kapitalistischen Kinos getragen. Die Guten mussten handeln, um das Gute zu bewahren. Eli legt den Schlüssel zurück hinter den Heine-Kopf, ins offizielle Versteck. Sie läuft mit dem Buch in der Beuteltasche die Straße entlang, die zum S-Bahnhof führt, der letzten Station im Osten. Am Sonntagmittag ist man hier allein als Spaziergänger oder als Ausflügler nach Berlin, West oder Ost, das geht eigentlich niemanden etwas an, wo man hinwill. Und ob man tugendhaft ist oder klassenbewusst und jederzeit im Herzen trägt, dass man versprochen hat, nicht im Westen auszusteigen, bin ich Jesus, so denkt man als Student. So denkt Eli. Das geht niemanden etwas an. Sie läuft an massivsten Eisenzäunen und Toren entlang, lauter festes Gründerzeitkapital, gotische, maurische, englische Villen, früher prächtig, jetzt Gästehäuser, Internate, Möbellager, ein Kinderheim.
Am Bahnhof sind alle drei Flügeltüren versperrt. Achtzehn-,neunzehnjährige Burschen in Uniform mit Gewehr vor der schmalen Brust halten Wache. Leute fragen. Wann die S-Bahn wieder fährt. Heute nicht, sagen die Soldaten, und morgen wahrscheinlich auch nicht.
Ihr Kinder, ihr müsst unbedingt die Türen zur Schalterhalle aufmachen, sagt eine Frau. Seht ihr nicht, die Schwalben wollen rein. Die haben in der Schalterhalle oben in den Dachträgern Nester gebaut. Hört ihr denn nicht, wie die Jungen piepsen? Die zweite Brut ruft nach Futter.
Ich will zu meiner Schwester. Ich muss nach Hause. Ich will zu meiner Mutter. Die fünf Soldaten sind verantwortlich für den Frieden und die Unantastbarkeit der Schutzmaßnahme. Ein übernächtigter Fremder wiederholt nun fast bettelnd: Ihr müsst einsehen, ich muss nach Hause.
Achselzucken. Betretenes Schweigen.
Eli steht dazwischen und versucht, irgendetwas Eigenes zu denken.
Und wenn ich morgen zum Alexanderplatz fahren möchte. Wenn ich morgen erkunden möchte, wie viel ein Schlafsack kostet.
Wozu braucht die Puppi denn einen Schlafsack? Eli raunzt zurück.
Das geht dich Rotznase einen Dreck an.
Der ausgesperrte Stationschef beschwert sich: Ja sind wir denn in der Gosse?
Nee, sagt einer, wir sind nun alle miteinander im Knast.
Die Stimmung schwankt. Den Nächstbesten zum Trost umarmen oder einfach zuschlagen. Türen eintreten.
Die Frage ist, wie kommt man zum Alexanderplatz, also eigentlich vom Osten nach dem Osten, das muss doch möglich sein, praktisch und
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