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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Geschenke in festes braunes Papier, sie schnürt ein Paket. Ihre Sachen für unterwegs bringt sie im Sportbeutel unter.
    So macht sie sich auf die Reise. Über Magdeburg ins Kupferschieferrevier. Eisleben. Thomas-Müntzer-Straße.
    Schon in der Eisenbahn, je näher die Berge, die Halden, die Orte mit den Endungen -leben und -hausen kommen, fällt das innere Freudenfeuer zu einem flackernden Aschehäuflein zusammen. Umkehren, wenigstens das hässlich anhängliche Geschenk im Gepäcknetz vergessen. Dann unter einer Eisenbahnbrücke hocken oder im Wartesaal schlafen. Bis der Rückzug kommt oder neuer Mut. Manchmal fährt ein sanfter Wind in die Glut. Die Flamme zuckt. Bilder flattern. Ludwig, seine Gestalt, wie er auf dem Feldweg herbeischwebt. Die verregneten Küsse. Oder der Zikadenfries. So viel Glück. Das knisternde Briefpapier. Die Einbildung. Die Stimme. Von-Mund-zu-Mund-Atmen. Lachen. Als Kugeltier. Noch so eine Meinung oder eine Wiederbelebung.
    Eli steigt aus. Das Paket trägt sie bei sich. Es ist Mittagszeit. Eisleben, eine Stadt für Radfahrer. Ein paar Fußgänger gehen im Häuserschatten. Hier wurde Martin Luther geboren, hier ist der Reformator gestorben, zufällig auf einer Reise, die ihn zurück nach Wittenberg führen sollte.
    Am Marktplatz, neben Kirche, Rathaus und Konsument: die Verwaltung des Kombinates. Dort, in Zimmer 3, kann der Dispatcher erklären, wo Ludwig Zweig arbeitet. Als Hilfshäuer im Thomas-Müntzer-Schacht. Sie können mit dem Bus hinfahren. Haltestelle direkt vor der Tür. Abfahrt in fünfzehn Minuten. Vergessen Sie nur Ihr Paket nicht.
    Eli dankt.
    Auf der Wartebank im Flur hockt eine kinderkleine Frau, sie rückt zur Seite, höflich und bestimmt. Eli setzt sich gehorsam.
    Das knittrig besorgte Gesicht folgt Elis Blick, neugierig undhilfsbereit. Gegenüber hängen Busfahrpläne. Darüber das Bild von Wilhelm Pieck. Über der Haustür rückt der große Zeiger einer großen Uhr. Die kleine Frau baumelt mit den kurzen Beinen, sie zuckt die zierlichen Achseln. Sie kann es nicht ändern, dass die Zeit so schnell oder so langsam vergeht. Der große Zeiger zittert nach jedem Ruck. Das Tageslicht fällt aus einem Seitenfenster. Es ist kühl, und es riecht wie im Tannenwald. Die Frische kommt von den gebundenen Trauerkränzen, die in einer Reihe auf den Bodenfliesen liegen, alle gleich ausstaffiert mit wachssteifen weißen Lilien und roten Schleifen. Wie für einen Gedenktag bereit.
    Ist heute ein Gedenktag?
    Die kleine Frau schaukelt vergnügt mit den Beinen.
    Kränze liegen hier immer. Von Montag bis Sonnabend. Vorrat für die Veteranen und für alle Fälle.
    Ach je. Eli umfasst das Paket auf dem Schoß, der Sportbeutel hockt hundetreu an ihrer Seite.
    Wie tief ist eigentlich so ein Schacht?, fragt Eli.
    Acht bis zwölf Sohlen, sagt die Frau. Nunderwärts.
    Ziemlich tief, sagt Eli. Das Paket sitzt auf ihrem Schoß wie ein Schild. Der Mund redet. So bleiben die schwarzen Gedanken still. Kränze von Montag bis Sonnabend.
    Kennen Sie sich aus hier in der Umgebung?
    Schu, sagt die sehr kleine Frau. Sie stützt beide Hände auf, als wollte sie mit dem Hinterteil sportlich von der Bank abheben, vielleicht schweben, die kurzen Beine baumeln.
    Sind Sie aus Schlesien?, fragt Eli.
    Schu. Schu, weil ein Schlesier nicht gerne Ja sagt, weil Ja eigentlich ein Sterbenswort ist. Schu heißt »schon«, und das gilt so viel wie: wenn es darauf ankommt, ungefähr eigentlich. Soweit das möglich ist, kenne ich mich schu aus hier in dieser Umgebung, sogar bis über die Grenze, wo die anderen Schlesier hingekommen sind. Südlich vom Harz. Aus Schlesien.
    Von woher denn?
    Neukirch Katzbach.
    Ach, sagt Eli. Dann kennen Sie vielleicht Probstein und Pilgramsdorf?
    Schu.
    Die kleine Frau wirft einen Blick auf ihr Handgelenk, auf ein Zeiteisen, gewaltig wie eine Bahnhofsuhr. Es ist ein Ruhlaer Herrenmodell. Sie vergleicht mit der Zeit, die über der Tür herrscht, darauf rutscht sie behende von der Wartebank. Auf Zehenspitzen erreicht sie den Löwen, die Türklinke des Portals.
    Die Liliputanerin von Eisleben tippelt über den Marktplatz. Nieselregen.
    Eli kriecht in Antons Rotfrontkämpferjacke. Sie steigt in den Bus. Sie findet gleich vorn einen Sitzplatz. Schulkinder poltern an einem schimpfenden Fahrer vorbei. Eli kramt ihr Notizbuch aus dem Sportbeutel.
    Fellini, Padre, schreibt Eli unter das heutige Datum.
    Szene in der Bahnhofswirtschaft. Klöße und Sauerkraut. Soldaten. Das Kind bin ich. Wir reisen nach

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