Sepia
Mosaik, lauter nervöse Episoden. Marcello, wunderbarer Mastroianni, wach endlich auf. Zentrifugaler Tanz.
Der wehmütige, scheintote, kraftlose Held kann den Engel der Umkehr nicht mehr erkennen. Ach, Via Veneto, Fontana di Trevi, ach, Rom. Wo Erika wohnt. Am Ufer von Ostia, dort enden die süßen traurigen Spuren, Sand und Meer. Eli wartet in ihrem roten Stammsitz, bis alle fort sind. Das ist eine Mitte. Stille und Licht.
Ludwig hat mit Bleistift geschrieben.
Eli, Eli, jetzt, Mitternacht in meinem Keller, erinnere ich mich an die Wälder und Wiesen, an den See und den Himmel. Jetzt, wo ich keine Fenster habe, finde ich Norden, Süden, Osten und Westen als undurchsichtige Richtungen in meinem Kopf, Schatten auf Nebel. Was tun? Das sind die Worte eines Engländers, seine Weisheit für Dich von meiner Hand:
Wenn ich morgen die Augen öffne, wird der Sonnenaufgang die Schönheit der äußeren Welt zurückbringen. Aber die geistige Nacht, die sich auf mich gesenkt hat, verspricht keinen Morgen. Früher schienen mir Grausamkeit und Gemeinheit, die staubigen Leidenschaften des menschlichen Lebens, wie ein aufgelöster Missklang in der Musik, wie ein Knacks zwischen dem Glanz der Sterne und der erhabenen Prozession der geologischenZeitalter. Nun aber ist alles zusammengeschrumpft und nur noch mein Abbild in den Fenstern der Seele, durch die ich hinausschaue in die Nacht des Nichts. Nie hat man einen dunkleren und engeren Kerker gebaut als den, in den die Schattenphysik unserer Zeit uns einschließt. Früher glaubten die Gefangenen, dass außerhalb der Mauern eine freie Welt existiere: Nun aber ist das ganze Universum Gefängnis geworden. Es herrscht Dunkelheit draußen, und wenn ich sterbe, wird Dunkelheit drinnen herrschen. Nirgends ist Glanz oder Weite; nur Belanglosigkeit für einen Augenblick, und dann nichts.
Warum in einer solchen Welt leben? Warum gar sterben?
L.
Eli schreibt auf ein lumpig liniertes Blatt.
Lieber Ludwig, das hat Dein Engländer schön gesagt. Schattenphysik unserer Zeit usw. Und dann die schönen Fragezeichen. Warum leben? Warum sterben?
Irgendwann neun Monate vor deinem Geburtstag bist du durch das Schicksal auf die Gesetzesbahn der endlich lebenden und immer sterbenden Natur gebracht worden. Dazu gibt es, wie die Dinge liegen, keine Frage mehr, und deswegen kannst du weder von mir noch von den Göttern eine Antwort erwarten.
Liebe Eli, aus dir spricht Schubert, der fromme Hegelianer, wenn nicht gar Bloch. Prinzip Hoffnung, gute Nacht.
L.
So tönt der Stolz, die Eifersucht. Das tut weh. Es ist ein gemütlicher Schmerz, du lebst am besten damit auf dem roten Stammplatz, hinter dir der klappernde Projektor, vorn stundenlang zuckend schwarzweiße Bilder oder einfach nur stumme Dunkelheit.
Bald darauf erfährt Eli aus den Seminarpapieren, wann Ludwig Geburtstag hat. Im Oktober, so will es das Schicksal. Der Kalender will, dass der Oktober bevorsteht. Eli erkundet gleich noch den Geburtstag von Schubert. Aus bedeutungslosem Interesse, interesseloser Neugier. Im Juli, ein Hochsommerdatum, ein Tag, der versteckt in den Ferienwochen oder in der Zeit des Praktikums überlebt wird.
Das Jahr zieht seine gerechte Bahn. Schubert ist die hiesige Sonne. Il sole. Ludwig ist ein Fixstern in einem anderen System. Telemach, aus der Ferne funkelnd. Eli glüht in seiner Kälte.
Eli verlangt fünfhundert in zehn Scheinen. Der Mann hinter dem Sparkassenschalter schreibt die Zahlen, zieht Striche mit Federhalter und Lineal, braucht den Tintenlöscher, löscht lange genug, zählt zehn Fünfziger aus seinem rechten Daumen. Er ist schlechter Laune. Zehn Scheine in Elis Händen. Es ist die Jugend, denkt er, ihr liederlicher Wandel.
Im Jagdausstatter, Ecke Linden-, Wilhelm-Pieck-Straße, kauft Eli mit dem ausgezahlten Geld einen dicken, für Jäger gemachten Herrenmantel, dazu eine schweinslederne Jägertasche, sechs Taschentücher mit verschiedenen Jagdmotiven. Wer Qualität haben will und Geld hat, kauft im Jagdausstatter. Man weiß, dass die hiesigen Jagdsachen Weltniveau haben. Sie werden sogar nach England und Kanada exportiert.
Tage vor der Reise hängen die Geburtstagsgeschenke bereit. Der Mantel am Kleiderbügel, die Tasche über der Mantelschulter. Eine Pelle für den Fixstern im kalten Mansfelder Raum. Eli streichelt den warmen Stoff. Jägerloden vom Feinsten. Die Hirschhornknöpfe hat Eli ringsherum abgetrennt und durch neutrale Männermantelknöpfe ersetzt.
Eli wickelt die
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