Sepia
im Gänsemarsch schweigend hintereinander zu laufen, dann das Thema zu wechseln, irgendwann, wenn man irgendwas geredet hatte. Stolpern, Hundekacke, ein Geräusch, das wie ein Darmwind knattert, alles konnte geschehen.
Sie wollen schon gehen?, hatte er, fest am Stuhl klebend, aber doch irgendwie erschrocken gefragt.
Tschüs, Doktor Schubert.
Sein Blick in Elis Nacken. Ein Magnet. Ein leichter Sog. Stopp. Ein Rieseln im Rücken, fein in den Kniekehlen. Dann reißt sie sich los von der Stelle, wo gar nichts mehr hält. Kein Wort bietet Geselligkeit, brüderliche Gedankenfreundschaft, die herzinnige Bitte, noch zu bleiben, zu warten, gemeinsam durch den Abend zu wandern.
Vor dem Bibliotheksportal fließt der hauptstädtische Verkehr. Der 96er Bus vom Alex. Eli schwingt die Flügel, so gut es geht mit den sieben schweren Büchern und den gewichtigen Gedanken. Die Friedrichstraße entlang, an der Baustelle am Bahnhof vorbei, dort, wo ein Grenzgebäude gebaut wird, modern, aus Stahl und Beton, ein Tränenpalast für eine geteilte Welt.
Ausverkauft, ein Streifen klebt über dem Plakat der heutigen Vorstellung.
Warten lohnt sich nicht, sagt die Frau an der Kasse. Es liegen nur fünf bestellte Karten hier, die werden bestimmt noch abgeholt.
Eli wartet trotzdem. Sie wartet in der Kantine auf die Soljanka, auf Schubert, auf Glück. Am Nebentisch kann man Martin Flörchinger und Helene Weigel sitzen sehen und den frechen, etwas angesäuselten Ekkehard Schall. Eli hat an der Kasse ein Programmheft gekauft. Lauter Weisheiten von Brecht und von seinen Schülern. Statt eins nach dem anderen sollen die Schauspieler eins aus dem anderen spielen.
Eine Lautsprecherkiste an der Kantinenwand wünscht allen einen Guten Abend, sie sagt die Zeit an. Maske, Bühne, wer an der Reihe ist und wieder die Zeit. Ekkehard Schall lässt sich noch einmal in der Kantine blicken, nun hat er schon ein Bärtchen unter der Nase, das Kalkgesicht des Arturo Ui. Er trinkt das Bier aus und noch einen Schnaps. Er wärmt sich mit ein paar Grimassen. Eli erschrickt, sie lacht, er beugt sich zu ihr über den Kantinentisch, sie riecht die Fahne. Letzter Aufruf.
Die Kassenfenster sind geschlossen. Die Vorstellung hat angefangen. Man hört Trommeln und dann nichts mehr. Von Schubert keine Spur.
Eli auf dem Weg nach Hause. Die Bahnsteige in Karlshorst und in Bergholz-Rehbrücke und in Pirschheide sind dunkel, auch im Wartehaus ist es finster wie in einem Bärenarsch. Aber es gibt eine Bank. Eli grübelt über Brecht und Rousseau. Wie recht sie haben, wie genau sie die anderen Menschen kennen. Weil der fahrplanmäßige Zug ausfällt, gewinnt Eli noch eine Stunde: Bank mit Blick auf die Waldkulisse, davor die mondblanken, spitz in die Unendlichkeit stechenden Schienen. Rousseau weiß, wie es um Eli bestellt ist, um ihr Denken. Es ist ein Ludwig-Denken, raumlos, eigentlich eine Überschreitung. In die Seele. Von Seele zu Seele. Ich suche mit seinen Augen. So laufe ich in der Welt herum. So kann ich nichts mehr falsch machen. Wahrscheinlich muss ich gar nicht mehr urteilen, nichts mehr entscheiden. Es geschieht. Bibliothek. Hunger. Schubert. Theater. Angst. Ich lache über die Späße des Schauspielers Ekkehard Schall. Ich lasse mich anrühren und gleich auch von einem fremden Menschen umarmen. Ich gefalle als Ludwig unter den Augen Ludwigs. Rousseau schreibt: Der stets außer sich selbst befindliche gesellige Mensch weiß nur noch in der Ansicht der anderen zu leben, und nur aus dem Urteil der anderen entnimmt er sozusagen das Gefühl der eigenen Existenz.
In der Ansicht Ludwigs.
Aus dem Urteil Ludwigs.
Eli fühlt sich erkannt. So krank, so scheußlich, so verdorben bin ich.
Bleimüde und liebeskrank. Um Ludwig zu gefallen, schlage ich mir die Nacht um die Ohren.
Es ist das Höchste, das Schönste, Besseres kann mir nicht widerfahren.
Weil das Hauptgebäude mit der Verwaltung im Grenzgebiet liegt, gibt es nicht jeden Tag Post. Aber manchmal steht sehr früh am Morgen eine gelbe Wanne vor dem Haupteingang. Der Pförtner schleppt die gelbe Wanne, den Postcontainer, in seine Loge, er dekoriert sein Pförtnerfenster mit Briefen, Postkarten, Päckchen. Studentenpost aufstellen, das macht er gerne. Er inszeniert ein Fest. Ostern und Weihnachten an einem Tag.
Eli drückt ihren Brief ans Herz. Die Ewigkeit, während sie im roten Sessel des Vorführraums harrt. Hundert Minuten
La dolce vita
. Verströmende Fülle des Lebens. Das Fresko einer Epoche. Ein
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