Sepia
sichere, volltönend ungenierte Stimme. Ami go home. Einen lauten Kehrreim. Zum Mitsingen. Aber alle suchen stumm die Plätze. Zuerst in den hinterenReihen. Die Kamerastudenten haben ein Foto von Ho Chi Minh vergrößert. Dazu aus Buchstaben ein Spruchband montiert.
Wir unterstützen die Front National de Libération in Vietnam.
Foto und Band hängen hinter dem Podium, wo das Präsidium Platz nimmt. Dozenten, die Dekane der Fakultäten, der Prorektor, Gäste. Wir werden alles tun, um den Krieg in Vietnam zu verhindern.
Keine Postsendungen ins Kapitalistische Ausland.
Kein Postempfang aus dem Kapitalistischen Ausland.
Verstärkte Ausbildung im KK-Schießen. Ersatz- und wahlweise Segelfliegen oder Riemenrudern in enger Zusammenarbeit mit der Akademie für Staat und Recht.
Der Student Nu Nong aus der Volksrepublik Vietnam dankt im Namen der Vietnamesischen Jugendorganisation. Er spricht deutsch, warm und weich, deutlich geprägt von der Stadt Leipzig, weil sich dort das Ausländerinstitut befindet, wo alle Studenten aus Afrika oder vom Persischen Golf oder aus Indien die deutsche Sprache lernen. Lutherdeutsch, gemischt mit sächsischer Bahnhofskneipe. Der Produktionsstudent Harry übernimmt die Patenschaft über Nu Nong. Eine Liste wandert durch die Reihen. Was wir tun können für die gerechte Sache.
Eli spendet den Lohn von der letzten Herbstlaubaktion im Park von Sanssouci für den Wiederaufbau des Ho-Chi-Minh-Pfades. Das ist viel, das ist alles, mehr kann sie nicht tun. Das alte Leiden, der Pazifismus, meldet sich wieder, die Kinderkrankheit, die heillose Wunde von der Bombennacht, sie zwickt, sticht, juckt. Sprengbomben explodieren. Phosphor brennt.
Die Eli-Akte belegt die Krankengeschichte. Frühkindliche Psychose, irgendwie ein Sonderfall, chronisch elternlos, aber Arbeiterklasse. Die betreffend Betroffene nimmt kein Gewehr in die Hand, nicht mal ein KK-Gewehr. Niemals, so sagt sie.
Ein Verdacht auf Ansteckung, auf Verbreitung wird nicht ausgeschlossen. Als Maßnahme sei Isolation zu empfehlen.
An der Alten Brücke liegen unsere Riemenjollen. Die Studenten bilden eine Zehnerbesatzung, sie rudern auf vormilitärischen Befehl die Havel entlang. Achtung fertig los, Schwielowsee und zurück. Der Kommandeur, Professor Abendroth von der Akademie für Staat und Recht, wischt sich die Hände. Man sieht, wie er sofort nach dem Manöver samt Aktentasche und Stockschirm unter den Zivilisten im Neptuncafé verschwindet. Abendroth von hinten.
An die schießbefreiten Studentinnen werden je zwei Fahnen verteilt. Oskar, das ist die fachlich korrekte Bezeichnung für eine Winkerflagge. Sie ist quadratisch und besteht aus einem roten und einem gelben Dreieck. Mit diesen Oskars lernen wir das Winkeralphabet. Man nimmt je einen Oskar in die rechte und in die linke Hand, man hebt, senkt, streckt, winkelt spitz oder stumpf, man kreuzt über Kopf oder wedelt. Der Ausbilder, ein tüchtiger Student von der Akademie, flüstert das Wort.
Eli muss zuerst Flagge setzen, dann muss Eli buchstabieren, was Brigitte, die Schnittstudentin mit Behindertenausweis wegen Hörschwäche, über Hundertmeterdistanz auf dem Sportplatz im Lustgarten signalisiert: Margarine. Wendeltreppe. Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer Aurora.
Das Winkeralphabet kann man immer gebrauchen. Auch in unserem Frieden. Manchmal kann man sogar froh sein, sagt Brigitte. Eli erfährt, was man mit einem Behindertenausweis machen kann. Man braucht nicht zu schießen, hat in der Straßenbahn Anspruch auf einen Sitzplatz, man braucht nirgends zu warten, man kann überall gleich nach vorne gehen.
Keine Post, kein Brief von Ludwig. Der Pförtner stapelt Blechbüchsen. Studentenfilme. Ein Lieferauto fährt die Büchsennach Leipzig. Dort findet das Internationale Kurzfilmfestival statt. Aus jedem Studienjahr der sieben Fachrichtungen wird je ein Student zur Teilnahme delegiert.
Siegfried kann jetzt nicht. Er ist mit seiner Diplomarbeit in der Hauptverwaltung in einen festen Plan eingebunden. Felix steht mit kurzen Terminen unter Vertrag bei der DEFA. Er schreibt ein Drehbuch für einen Musikfilm und eine Komödie, eine Filmkomödie mit Musik, Leichtes, das schwer zu machen ist, wie man weiß. Der Regisseur steht schon fest, Schauspieler sind bereits engagiert. Die Arbeit wird angerechnet. Das Studium ist für ihn damit so gut wie gelaufen. Wir trinken später mal ein Bier auf das Ende und den Erfolg und so weiter. Siegfried und Felix, auch Ludwig scheiden als
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