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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Beutel nach Haus. Die lässt er in aller Stille über den Schneidetisch laufen, immer wieder, er wird nicht müde, mit zärtlichen Augen, immer noch einmal, ehe er seine Dreiminutenkunst öffentlich in der Kleinen Vorführung zeigt.
    Tschüs, Meng.
    Danke, Eli. Eli hatte gehofft, dass Meng etwas weiß von Ludwig oder dass wenigstens sein Name fällt. Um Ludwigs willen hat sie das Theater mit den Haaren, die in den glühendheißen Kohlefadenlampen beinahe Feuer gefangen hätten, bis Mitternacht mitgemacht. Ludwig und Meng hatten manchmal Schach miteinander gespielt.
    Und wie geht’s sonst so, Meng, spielst du noch Schach?
    Ach wo, kleine Zeit. Kann man so sagen? Kleine Zeit.
    Wenn du willst. Keine oder wenig Zeit oder auch kleine Zeit. Du sprichst sehr gut deutsch, Meng. Du hast dich wirklich sehr verbessert. Und nun wollen wir mal hoffen, dass du was im Kasten hast, eigentlich wollte ich mir die Haare längstabschneiden lassen, dann würde ich jetzt was anderes machen, schlafen vielleicht.
    Der Pförtner dreht die Heizung auf Nachtsparbetrieb. Er schließt die Hauptpforte. Er kennt das nicht anders. Zwei Stunden Drehzeit dauern immer viel länger, immer bis Mitternacht. Immer, bis nichts mehr zu ändern ist.
    Die anderen sind schnell verschwunden.
    Tschüs, Meng, ich vertrete mir noch ein bisschen die Beine.
    Eli betet für Ludwig. Dazu braucht sie den nächtlichen Himmel, Parkwege, das Gespensterschloss und etwas Übermut. Unten im See schwimmt der Dreiviertelmond. Weiße Platten liegen am Ufer. Pfosten, Betonstelzen, ein Wachturm. Wo gestern noch Schilf wuchs, zieht sich ein Gewölk aus Stacheldraht, krallenartige Fangeisen ragen in kurzen Abständen aus dem Wasser.
    Die Marmorbank spendet Wärme. Hinterrücks das Schlossgemäuer gibt noch etwas her von der Abendsonne. Alexander von Humboldt soll gesagt haben, als er gegenüber auf der Glienicker Brücke verweilte, dies sei der schönste Fleck der Welt oder doch wenigstens einer der schönsten. Und der musste es wissen, der war herumgekommen, bis ins Hochland von Mexiko und Ecuador, bis auf den Gipfel des Chimborasso.
    Eli hockt auf der Bank, vielleicht ist sie zwischendurch eingenickt, in einem Minutenschlaf ist sie kurz woanders gewesen, kurz auf einer Sommerwiese. Blinzelnd die Gegenwart.
    Der Himmel sieht wie Dachschiefer aus. Es ist der Augenblick, wo man nicht weiß, wer gewinnt, Nacht oder Tag. Dunkelheit oder Licht. Hinten am Horizont ein Pinselstrich. Rot. Aus dem dürren über den Wachturm ragenden Antennengerippe hört man Stimmen. Vögel. Leises vorsichtiges Geschwätz, Seidenschwänze. Durchzügler, die hier übernachtet haben. Einer schwirrt auf, ein zweiter folgt, dann ein dritter. Man tauscht die Plätze auf dem Gestänge. Ein Ritual vor demStart. Wohin? Richtung Süden. Italien. Afrika. Eli spürt warmes durchgesessenes Blut, die befreiende Sudelei. Die große Erleichterung, nächtlich schwarz. Die Erlösung, weil alles beim Alten bleiben darf. Die Liebe. Ludwig. Die Geheimnisse. Schubert. Die Existentialisten. Die Suche. Neuerdings nicht nur Schopenhauer, sondern auch Nietzsche. Es ist schade, dass das Leben einmal zu Ende geht. Das Eli-Leben und das Leben auf der Erde. Irgendwann tottönende, buntschillernde Materie, aus der vielleicht wieder einmal eine Urzelle entsteht, ein Auge, ein Ohr. Das Rotkehlchen fängt an zu singen, als hätte es eine Nachricht empfangen. Die Amseln flöten. Als stünde der Lenz vor der Tür.
    Der Babelsberg liegt 120 Meter über dem Wasser der Meere und Weltozeane. Unten breitet sich schiefergrau wie der Himmel und unerreichbar wie der Himmel das Wasser des Tiefen Sees. Rot im Südwesten. Der Widerschein. Es handelt sich um einen neuen Tag, einen Schritt im Kalender.
     
    Vollversammlung. Ein Student spielt Gitarre. Er schlägt die Saiten und summt. Das macht er sehr gut, das bringt die ernste, kampfbereite Stimmung. Das Gemeinschafsgefühl. Noch vor Beginn. Die Mensa wurde vom Hausmeister mit blauen und roten Tüchern entsprechend getakelt, Fahnen, Podium. Stuhlreihen. Die Tische beiseitegeschoben. Der Gitarrist schlägt die Saiten, es ist der Regiestudent Bernd B. Becker, er hat die Dreharbeiten in Schulzendorf unterbrochen, er ist hergekommen, nun wandert er vom Podium zum Fenster, lehnt an der Wand. Man hat ihn wochenlang nicht gesehen, nicht mal in der Mensa, einer von den Leistungsstarken, einer, von denen es immerzu heißt, dass sie das meiste Talent haben und die Besten sind. Plötzlich hört man seine

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