Sepia
habe sich damit Soße, auch Milchreis und Apfelmus von den Lippen getupft. Anderntags ist die Seide schwarz, ein kleines elastisches Dreieck, es habe nach dem Essen unter dem Professorentisch neben Lehmanns Stuhl gelegen. Ein Exquisit-Slip, wie er von Angelika seit Tagen vermisst wird. Sämtlich nur Dichtung. Üble Nachrede. Böse Verleumdung.
Es kann geschehen, dass die Mäuler schweigen, über Wochen, über Monate, erschrocken, sogar schuldbewusst. Es gibt Sachen, die darf man nicht zu Ende denken, die müssen aufhören, die müssen im Sande verlaufen. Doch eines Tages, wenn einer auf Pol.-Ök.-Lehmann Wut hat, wird das Gerede wieder laut. Lehmann ist gesichtet worden. Hinter der Hecke. Mit Fotoapparat. Ein Teleobjektiv habe sich Schleicher Lehmann, Goldzahn-Lehmann, im Fundus der Fachrichtung Kamera ausgeliehen. Der Hilfsassistent von der Geräteausgabe kann das beschwören. Jetzt schießt der sogar Nacktfotos von unseren Schauspielerinnen und macht sich womöglich damit noch Geld.
Lehmann hält fachübergreifende Vorlesungen über die Krisen des Kapitals. Über die zehn Punkte im
Kommunistischen Manifest
. Über Punkt 5: Zentralisation des Kredites in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital. Zum Mitschreiben. Lehmann wiederholt, über absolute und relative Verelendung, bis jeder die Sätze notiert hat, bis Michaela, Schauspiel, drittes Studienjahr, den Kugelschreiber hinschmeißt. Meine Cousine drüben, neunzehn Jahre, istKrankenschwester. Sie fährt im Pelzmantel mit einem neuen Auto zur Arbeit, und im Urlaub fährt sie mit dem Auto nach Rimini. Laut, dass alle im Saal es hören. Dr. Lehmann, solche kindischen Einwürfe kennt er, erklärt noch einmal geduldig den Unterschied zwischen absolut und relativ, er verhaspelt sich manchmal, aber wenn er recht hat, hat er recht. Die unsichere Zukunft. Die deutlichen Unterschiede zwischen Arm und Reich. Die Schere, die immer weiter aufgeht. Zum Schluss argumentiert er, ohne den Namen zu nennen, mit Friedrich Nietzsche. Denn glaubt es mir! – Das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Baut eure Unternehmungen auf den Sand der Spekulation, nur hier, im Gebiet der ungesicherten Risiken, winkt der Reichtum, den uns die Jugendfreundin Michaela begehrlich vor Augen geführt hat. Michaela klopft Beifall.
Pol.-Ök.-Lehmann verdient unseren Krieg. Lehmann braucht eine Lektion. Spanner, schreibt Michaela auf ihren Pol.-Ök.-Hefter neben die vielen Kugelschreiberfratzen, die vielen bösen Gesichter des Kapitalismus.
Eli weiß ziemlich genau, dass die Spanner-Geschichte erfunden, die Sache eigentlich gemein, eine Verleumdung, damit sogar strafbar ist, trotzdem hängt sie das große Chinahandtuch vor das Fenster. Es heißt ja, ein Gerücht ist wie eine Geschichte, die hat immer irgendwo versteckt einen wahren Kern. Draußen irgendwo, vielleicht sogar hinter der Hecke. Augen. Die Lichter eines Fuchses.
Eli steigt aus dem Zuber, sie räumt das Feld. Der Tag beginnt. Angelika erscheint als Nächste im Waschraum, nackt und laut mit Kofferradio. Jazz am Morgen. Sender Freies Berlin, das ist, man weiß nicht warum, nicht ganz so sehr verboten. RIAS wäre schlimmer.
Noch vor Ende des Winterhalbjahres verschwindet Lehmann.Die gelben Durchschläge, Zettel, die den Vorlesungsbesuch bestätigen, liegen für alle, auch für Michaela, zur Abholung im Sekretariat. Ohne Zensuren, aber mit Unterschrift. Lehmann, der Gnadenreiche. Es heißt, er sei auf eigenen Wunsch gegangen. Man erzählt, er sei vom Ministerium versetzt worden, vom hiesigen Blumengarten ins Paradies, nämlich an die Ballettschule nach Berlin. Ein Sturzflug mit weicher Landung. Das Gerücht ist bestimmt wieder einmal wahr. Michaela, ch wie k gesprochen, ist die Tochter eines in der Filmgeschichte gepriesenen, mittlerweile verstorbenen Ufa-Lustspielregisseurs. Auch das ist ein Gerücht. Über solche Sachen weiß man nie was Genaues. Der muss doch über siebzig gewesen sein. Einundsiebzig, als Michaela geboren wurde. Das geht niemanden etwas an. Man sieht nur, dass sie sich Sachen erlaubt, die ein anderer nicht wagen würde. Und es gibt kein Spektakel, und es gibt keine Maßnahmen, auch nicht, als sie eines Tages zusammen mit der Mutter in die alten Verhältnisse zurückkehrt, nach München oder Hollywood. Das rote Berlin, der Ostkommunismus, hat in vielen Teilen nicht gehalten, was sich die
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