Sepia
auch die Verandatür stand offen.
Der Pianist spielte den ganzen Tag. Und dann ein Sommerabend mit Publikum. Konzert im Haus und im Garten des Staudenzüchters Karl Foerster. Dazu Eli nicht nur als Zaungast, sondern auf einem Stuhl. Ein Platz gleich neben dem Klavier. Eli konnte ihm auf die Finger gucken. Und sie spürte ihre heißen Hände, die brennenden Schultern. Sie hatte einenSonnenstich und Muskelkater, die Töne knisterten wie Gewitterluft in den Ohren. Ludwig van Beethoven, Opus 57, Sonate 23.
Eli achtet nicht auf die Welt neben dem klingenden Kasten. Die Welt ist leer. Ein leerer Raum. So ist sie allein. Mutterseelenallein. Sie vergisst ihre eigene Anwesenheit. Sie versenkt sich in die Finger der beiden Hände, schaut den Anschlägen zu, kein bisschen erstaunt, wie selbstverständlich die Töne fließen. Man muss nur im einzig richtigen Augenblick die richtige Taste berühren und richtig atmen und gleich auch an etwas Verlorenes oder Bevorstehendes denken. Wie Regen perlt, braust, strömt die f-Moll-Sonate. Erfrischt Phlox und Rittersporn, alle Jungpflanzen der Erde, labt den Staudengarten, die Feldflur. Tiefstehende Sonne funkelt durch die triefenden Bäume. Nachschauer fallen in den satten warmen, gleichfalls träumenden Wiesengrund. Nebel steigt. Schwebt in der Senke. Lichtsäume. Bläulich schimmernder Horizont. Hinterrücks das Zeichen des Mondes, orientalisch, eine silberne Sichel. Der Wahrheit als Zeuge bleibt die Natur. Warum jetzt nicht schlafen? Schlaf im Schlaf.
Nie träumt Eli von Feuer oder wieder einmal von Ludwig.
Sie träumt von einer Reise, vom Anfang der Wanderung: ohne Gepäck ohne Geld ohne Grenzen, sie träumt von einer eigenen Zukunft, von einem eigenen Kind. Das Kind ist viel zu groß für den Kinderwagen. Es liegt trotzdem in der himmelblauen gummibereiften Wanne. Es stößt mit dem Kopf an, es strampelt mit den Beinen gegen das massive Gestell. Eli sorgt sich um ihre Bürde. Sie hat Angst, dass sie das liebe frohe Kind vergessen oder etwas an ihm versäumen könnte, am meisten Angst hat sie vor den ungläubigen Leuten, die ungläubig in den Wagen schauen. Das Kind müsse längst laufen. Warum Eli es nicht auf die Beine stelle? Eli kann darauf keine Antwort geben. Sie findet keine Worte. Sie schiebt den Wagen auf dieandere Straßenseite. Sie flüchtet. Sie hat Angst, dass drüben eine der Fragepersonen wartet. Nirgends ein Ausweg. Rosenhecken, Brombeerdickicht. Wenn Eli nachts aufwacht, fühlt sie sich wie gerädert. Sie kratzt die Schenkel, den Bauch, überall blutunterlaufene Spuren. Rote Haut. Sie ist froh, dass am Montag in der Frühe die Woche beginnt.
Unten in der ehemaligen Wirtschaftsküche, wo der Feuerofen mit dem Kupferwaschkessel noch steht, wurde für die hygienischen Bedürfnisse der Studentinnen eine neue Kaltwasserleitung installiert, dazu drei Waschbecken, Ablage, Spiegel, Handtuchhaken. In der Ecke noch Gebrauchsgegenstände aus alter Villenzeit: ein Wannengestell, eine Wringrolle, Waschbretter. Schrott. Ein Holzzuber leistet noch gute Dienste. Man muss als Erste am Morgen aufstehen. Man hat den Zuber vielleicht schon am Vorabend mit Wasser gefüllt. Der Tauchsieder braucht eine Stunde. Man hat Zeit für alles andere, darf nur nicht noch einmal ins Bett kriechen, verschlafen darf man nicht. Wenn das Wasser heiß genug ist, muss man zur Stelle sein. Eine Tablette grüne Latschenkiefer oder lila Lavendel. Man faltet Arme und Beine sparsam zusammen, sinkt eiförmig in den Zuber und genießt. Wärme und Duft. Nicht ohne vorher das große chinesische Handtuch vor das ehemalige Waschküchenfenster zu hängen. Denkste, Onkel. Du bist umsonst so früh aufgestanden.
Es geht das Gerücht, jemand, ein Mann, ein Spanner, alt und scharf, lauere hinter der Hecke. Kein x-beliebiger Lustmolch.
Es geht das Gerücht, Dr. Lehmann, der Dozent für Pol.-Ök., kauert im Busch. Er liegt auf Knien im wintergrünen Eibengestrüpp, dort hat er sich versteckt, Goldzahn-Lehmann, Vorlesungen frühmorgens um acht. Auf dem Pult eine Anwesenheitsliste, in der er unsere Abwesenheit schwarz markiert. Goldzahn, ein geiler Spanner und dazu noch der im nämlichenTerrain sein Unwesen treibende Schlüpferklau. Wäsche verschwindet von der Studentinnen-Leine. Pastellfarbene Sachen aus Dederon.
An den Gerüchten wird rachsüchtig weitergebaut. Neue phantasievolle Details machen die Runde. Statt Taschentuch habe Lehmann in der Mensa ein champagnerfarbenes Seidenteil aus der Hosentasche gezogen. Er
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