Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
Vom Netzwerk:
seinen geistigen Beistand, buchstäblich, er verweigert die Buchstaben. Drei Kreuze. Das letzte Kapitel heißt:
Sammelplatz Piazza del Popolo und weiter
. Die Hand liegt bleiern auf dem linierten Papier. Schubert ist nicht gekommen, er kommt nicht.
    Eli hatte sich verboten, zu warten. Sie wartet nicht auf Schubert.Sie nutzt die Stunde, um einen Turnschuh zu reparieren, sie hört Radio.
    Genug Zeit ist vergangen.
    Das Verbot ist aufgehoben. Das Gebot der Eigenliebe. Eli wartet wieder. Sie horcht hinunter zum Eingangsportal. Sie dreht die Schlagermusik leise. Und dann auf null. Die Skala lauert, katzengrün. Wie auf dem Sprung. Warten ist Knistern in den Wänden, Summen im Kopf, Rauschen über dem Dach. Windheulen. Gedanken, die auf der Zunge liegen, lauter Fragen, ein gespielter Vorwurf und die zerkaute Nelke, das Nelkengewürz. Holz. Krümel im Mund. Eli wartet, weil er nicht kommt. Wahrscheinlich nie mehr, weil die Zeit nun vergangen ist, die Wartezeit, Lebenszeit, die Zeit, die es dauert, ehe ein Antrag genehmigt wird, die Bearbeitungszeit in Berlin, Keibelstraße. Man hat der Eheschließung mit der Bürgerin des Staates Österreich stattgegeben, auch dem Wohnsitzwechsel wurde zugestimmt. Entlassung des Erwin Schubert aus der Staatsbürgerschaft ab Zustellungsdatum in Tagesfrist.
    Das Prorektorat ist benachrichtigt worden.
    Eli hat es immer gewusst.
    Für den Bürger Schubert ein erfreulicher Tatbestand. Nach unvorhersehbar langer Wartezeit, nach wiederholten Gesuchen, endlich. Offiziell Heirat. Dann, wie oft hinterher, Trennung von der scheinverlobten, in Schuberts Falle, Wienerin. Dann das eigentlich angestrebte Zusammensein mit der über Grenzen hinweg geliebten echten Braut, ersehnte Umarmung, herzliche Begegnung mit dem inzwischen fünfjährigen Kindchen. Beginn eines gemeinsamen Lebens in Hildesheim.
    Eli muss sich eingestehen, sie hat nie mit reiner Seele die Daumen gedrückt, nie inbrünstig bedauert, wenn Schuberts Antrag wieder abgelehnt worden war. Statt mit ihm zu leiden, hat sie auf Seiten der hartherzigen Behörden gestanden. Sie war jedes Mal, wenn er ihr von einem Ablehnungsbescheid erzählte,nicht gerade froh, aber doch für diesen Tag sehr erleichtert, und er schien nicht gehörig wütend gewesen zu sein. Sie haben halbherzig geschimpft und sich als wechselseitig einander Schutzbefohlene sehr tröstend umarmt.
     
    Dr. Erwin Schubert, unser Assistent, ist fort, nicht geflohen, nicht geflüchtet, er ist ganz offiziell gegangen. Er hat geheiratet. Er ist rausgeheiratet worden. Er trug ja deutlich einen goldenen Ring am Finger, links, einen Verlobungsring.
    Siegfried Müller und Rafaela Reich werden per Brief von der Sekretärin zu einem außerordentlichen Montagsgespräch eingeladen. Der Dekan hat unterdes einen neuen Jahrgang übernommen, dennoch: Ihr Alten bleibt meine Sorge und meine Zier. Felix, der Wiener, glänzt, jetzt notgedrungen, durch Abwesenheit. Er hat in dritter Fassung ein Lustspieldrehbuch geliefert, dafür ist ihm das Diplom zugeschickt worden. Ein gutes Ende. Ein abgeschlossener Vorgang, die Akte wird im Archivkeller im Stalin-Haus aufgehängt. Für Siegfried liegen lobende Außengutachten in einer Mappe, seine Analyse des Nachkriegsfilmschaffens wird in allen Abteilungen mit Eins bewertet. Auszüge daraus sollen in der Studentenzeitung
Forum
auf der Kulturseite abgedruckt werden. Der Dekan nimmt sich Zeit für seine zwei Restkandidaten. Für Beststudent Siegfried und für Rafaela, die leider immer noch nicht geliefert hat.
    Der neue Jahrgang, diesmal ein ganzes Dutzend, in der Mehrzahl weiblich, befindet sich mit dem Literaturdozenten auf Reisen, auf Exkursion, wie es heißt, als würden sie auf dem Dach der Welt campieren, dabei besuchen sie die Klassikerstadt Weimar, anschließend das Konzentrationslager Buchenwald. Sie wohnen im altehrwürdigen
Hotel Elefant
.
    Der Reinigungsdienst hat im Seminarraum den kostbaren Teppich des Teppichhändlers gebürstet, die Möbel kräftig mitBohnerwachs eingerieben. Klappleitern lehnen neben den nackten Fenstern. Auf dem Boden ein Vorhanghaufen. Roter Samt. Der Dekan sitzt heute in sehr viel Licht. Siegfried Müller und Rafaela bilden die beiden anderen Ecken des Dreiecks am großen ovalen Salontisch. Der Dekan zögert noch.
    Siegfried erkennt, was fehlt. Sieht, was hilft. Die Untertasse aus der Mensa, wo das Scheuerpulver draufsteht. Ein Aschenbecher.
     
    Die Dekanorgel beginnt verhalten, leise, aber deutlich.
    Er habe gerufen, um den

Weitere Kostenlose Bücher