Sepia
unersetzlichen Verlust nicht grade zu beklagen, aber doch beim Namen zu nennen. Assistent Erwin Schubert wird nicht zu ersetzen sein. Wird nicht ersetzt. Es wird kein Neuer kommen. Kein neuer Assistent. Das Dekanbüro ohne Hilfe. Der Dekan redet über das Sekretariat im Verwaltungshaus und über die Fesseln des Fernsehens. Er redet wieder, als wäre er auf der Flucht, als wolle er ein Zentrum nicht berühren.
Er hält sich noch einmal an Schubert fest. Betont sein Wissen, seine pädagogischen Talente. Seine Vielseitigkeit und Verlässlichkeit. Der Dekan kenne niemanden, der sich so uneigennützig für die Studenten eingesetzt habe und das bei Schuberts vielbeachteten Publikationen über Brecht und, neuerdings ins Bulgarische übersetzt, über Kafka. Seine Meditationen über den Heißhunger vor einer Leihbibliothek im alten Prag, kenntnisreich, höchst anregend. Und sollten eigentlich nächstens in
Sinn und Form
erscheinen.
Kafka und die Erziehung
, auch dieser Text glänzend. Von nämlichem Kaliber. Dass Erziehung nur aus zweierlei bestehe, aus der Abwehr des ungestümen Angriffs der unwissenden Kinder auf die Wahrheit und dann in der sanften unmerklich-allmählichen Einführung der gedemütigten Kinder in die Lebenslügen.
Siegfried Müller notiert eins und zwei. Allerdings mit Fragezeichen.Er wird nachlesen, er sagt, er habe bei Schubert manchmal den historisch-konkreten Bezug vermisst.
Eli kämpft. Ihre Augenlider flattern. Sie versteckt unter der Hand eine Träne. So groß ist ihr Kummer um den unersetzbaren Verlust. Sie bedauert stellvertretend die unwissenden Kinder, sie bedauert auch gleich noch die Erzieher und die erwachsenen Kinder.
Es gibt aber doch Leute, die sich wehren, sagt Eli.
Der Dekan hebt die Hände. Es sieht wie segnend aus oder wie bedauernd. Tut mir leid. Die Sonne blendet.
Verehrtes Fräulein Reich, ich weiß, Sie müssen nicht getröstet werden. Denn Sie werden geliebt.
Siegfried hätschelt Eli mit einem guten Lächeln, er denkt an Elis Opa, den freundlich rüstigen Alten, dem er kurz begegnet war, Anton, so hatte Eli ihn vorgestellt, Siegfried denkt an die großen braunen Briefe. Zeichen der Liebe. Eli, Post aus Dresden, dein Opa sendet dir Grüße. Eli muss nicht getröstet werden.
Eli denkt an Ludwig oder Schubert oder Ludwig und Schubert, sie denkt, der Dekan weiß alles, dem Dekan entgeht aber auch gar nichts. Doch der Dekan hat weder an Elis Opa noch an Ludwig und nun auch nicht mehr an Schubert gedacht, er denkt an das Arbeiterfräulein. An den Funken Hoffnung, leben, nicht nur in der Zeit.
Ich setze Ihnen keine Frist, sagt der Dekan. Er sagt es im nunmehr mit einem Schild versehenen Seminarraum 08, wo die Vorhänge in der Ecke liegen, wo das Licht ungefiltert durch die Glasfront flutet: Keine Frist. Fristlose Erwartungen. Ohne die schallschluckenden Vorhänge im einstigen großen Salon des Teppichhändlers. Im späteren Besuchszimmer von Stalin.
Siegfried als Kumpel und Seminarsekretär mischt sich gutmütig ein, er zieht da nicht mit, er drückt auf den Termin. Nurnichts schleifen lassen. Wenn du willst, tipp ich schon mal die fertigen Seiten. Ich habe grade für Rudi die Abschlussarbeit in die Schreibmaschine geschrieben.
Für welchen Rudi?
Für Rudolf, der in Moskau studiert hat. Der von der Regie, der am Anfang mit uns in Musik saß, der dann delegiert worden ist, der Rudi ist wieder da. Er muss nämlich hier die Hauptprüfung machen.
Ach der, sagt Eli.
Immer noch ein Streber, erklärt Siegfried anerkennend, Rudi hat sich in Moskau überhaupt nicht verändert.
Eli hat keine Lust, jetzt wieder den schlauen dialektischen Bertolt Brecht zu zitieren, den Herrn Keuner und dass es was Negatives ist, wenn einer sich nicht verändert hat. Wieso denn. Gleichbleibende Liebe, das wäre doch gut.
Du bist ein edler Mensch, sagt Eli. Ich komme bestimmt auf dein Angebot zurück.
Nachts im Traum fühlt sich Eli wie ein Kaninchen auf freiem Feld, ringsumher Büsche, hinter denen wahrscheinlich die Jäger lauern. Die Büchse knallt. Die Hunde bellen. Eli schlägt einen schlauen Haken. Die blaue Blümchenbettwäsche ist nassgeschwitzt, die Bettdecke ein Klumpen.
Manchmal schwimmen Nächte und Tage nahtlos zusammen.
Der jüngere Jahrgang, der jetzt montags beim Dekan im Stalin-Haus das Hauptseminar absolviert, hat aus Buchenwald Material mitgebracht. Postkarten vom KZ. Echte Fotos, eine Luftaufnahme, Baracken, die sperrangelweit offenen Verbrennungsöfen im Krematorium, ein
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