Sepia
Wachturm. Auf der Rückseite der Ansichtskarten die Schablone für die Briefmarke und für die Adresse, kleingedruckt: Volkskunstverlag Reichenbach i. V. und auch die Namen der verschiedenen Fotografen. Das liegtauf dem Tisch. Material, eigens für Eli. Sie arbeitet im DIN-A4-Heft am Pollak-Kapitel, der ist allerdings im KZ Auschwitz umgebracht worden, Auschwitz liegt in Polen, in der Nähe von Krakau. Wie soll einer dahin kommen? Es ist gut, dass sie wenigstens Buchenwald auf dem Tisch hat. Auf einer Postkarte sieht man eine Pritsche und ein vergittertes Fenster, ein ernst blickendes, etwas schielendes Mädchen, das ein an der Wand hängendes Männerporträt betrachtet und gleichzeitig eine Gedenktafel zu lesen versucht, daneben ein Junge, der einen Blumentopf hinstellt. Vor dem Porträt stehen schon andere Blumentöpfe mit Alpenveilchen. Im Hintergrund gekreuzte Fahnen, Hortensien, Nelken. Der blonde Junge trägt am linken Handgelenk eine Armbanduhr, wahrscheinlich Ruhla. Der Text auf der Rückseite sagt: In dieser Zelle wurde der evangelische Pfarrer Paul Schneider von der SS ermordet. Eli benutzt die Lupe, um den Hintergrund zu erkennen, Einzelheiten. Die Topfpflanze ist eindeutig eine Obconica, Primula obconica, eine Becherprimel. Das gerahmte Bild über der Pritsche zeigt verschneite Bäume, darunter steht in holzschnittartigen Buchstaben irgendetwas von Gott.
Eli nimmt sich vor, die Kapitelfolge zu verändern. Wenn sie mit dem Pollak-Kapitel anfängt, dann hat sie das Ende der trostlosen Geschichte als Erstes bewältigt, das Schwerste hinter sich, dann bleiben am Schluss die Griechen, die Familie des Priesters Laokoon, ihre Wohnstatt am Fluss Skamander. Die Legende vom hölzernen Pferd.
Eli holt die bestellte Milch aus der Kiste vor der Mensa. Dann geht sie in die Bibliothek. Frau Felber hat ein Buch über den französischen Kunsträuber Denon aufgetrieben. Stichwort Laokoon. Dann studiert sie an der Mitteilungstafel den Plan für die mündliche Prüfung in Französisch. Dann geht sie nach Hause. Sie ist müde, aber sie will nicht schlafen. Eli macht ein paar Wäscherinnen. Figurenentwürfe für Jürgen. Sie schneidetPapier in Postkartengröße, dreht Röhren, biegt die Ecken. Das hat sie in Dresden gesehen. Werke des Künstlers Glöckner. Lächerlich normale Sachen. Da vergeht die Müdigkeit. Ein anderer Kniff, und schon unterscheiden sich die Geister. Eli nimmt nun die Postkarten aus Buchenwald, die ausgebreitet auf dem Tisch herumliegen, sie rollt den Haupteingang zum Appellplatz nach innen, den Zellenbau, Stacheldraht in Streifen. Innen das Barackenlager. Außen sichtbar hauptsächlich gelbliches Fotopapier. Sechs, sieben Wäscherinnen nach Vorbild gefaltet.
Und jetzt Licht.
Perspektive.
Bewegung.
Keine Blenden. Manchmal kurz, höchstens drei Sekunden, Schwarzfilm zwischen den Sequenzen, sonst nur Schnitt. Und Geräusche. Wasser. Frauenstimmen. Keine Musik!
Jürgen greift die Idee auf. Dass im Inneren noch etwas anderes ist. Kaum erkennbar, aber doch vorhanden. Er will darüber nachdenken. Wahrscheinlich braucht er größere Figuren. Vielleicht aus DIN-A4-Bögen. Nach außen gewendet die Rückseite von beschriebenen Blättern. Kugelschreiber drückt Muster ins Papier. Spiegelschrift. Hermann Glöckner hat Knüllpapier glattgebügelt. Das kann Eli erklären, das hat sie gesehen, damals in einer Ausstellung im Botanischen Garten. In den Vitrinen des Kakteenhauses, von Henn organisiert, Faltungen des Künstlers Hermann Glöckner, geometrische Formen, meist aus Papier oder Blech. Das andere in der Vitrine hatte plötzlich ebenfalls seltsam ausgesehen, die Winkeleisen und Heizungsrohre. Wie Körper. Wie Gestalten. Wie verwandelt. Elis Vorschlag: Jürgen, wir könnten später mein Schreibheft mit dem Laokoon-Text auseinandernehmen.
Für das Puppentrickstudio braucht man einen großenSchlüssel. Es ist die Küche vom Schloss Babelsberg. Hier in separatem Gebäude, durch einen Kellergang mit den Herrschaftsräumen verbunden, wurde für den deutschen Kaiser Wilhelm gekocht, für seine Familie und seine Gäste. Fürst Otto von Bismarck zum Beispiel, der hat hier Spiegelei und Spargel gegessen, bevor er Deutschland von oben zur glücklichen Einigung gezwungen und die Sozialisten gebändigt hatte. Jetzt gibt es im Geviert aus holländischen Fliesen viel Bastelzeug und Meister, die ihr Handwerk verstehen. Puppenführer. Requisiten. Ein Spielfeld.
Eli vertrödelt die Zeit. Sie schaut zu, die sieben
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