Sepia
ist die Natur des Menschen. Der Marmor spricht für das Ende. Kein Kampf mehr. Steinerne Stille.
Kneif die Augen fest zu, dann guck noch einmal. So hat es Goethe gemacht in Rom. So seine Empfehlung an uns. An Napoleon,Augen zukneifen und noch einmal gucken. Bewegte Bilder. Film.
Noch ungewiss, in undeutbaren Frequenzen, tönte eine neue Botschaft. Eine Stimme flüsterte tröstend aus den Wolken auf die Hinfälligkeit der Menschen herab.
Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Schmerz und Erlösung.
Die Skulpturengruppe des Laokoon sei aus acht Marmorblöcken gehauen.
Im Palast des römischen Kaisers Titus habe man, bei Reputation, den Marmor bewundern können. So überliefert es Plinius in seinen Aufzeichnungen. Er, der sich sonst vor allem Naturerscheinungen widmete, war angesichts allerhöchster Bildhauerkunst ins Schwärmen geraten. Laokoon nannte er ein Werk, das allen anderen in Malerei und Bronzeplastik vorzuziehen sei.
Plinius starb im Jahr 79. Er hatte sich als Flottenkommandant mit seinem Schiff, um den Ausbruch des Vesuvs zu beobachten, aber auch, wie sein Neffe an den Historiker Tacitus schrieb, um Fliehende aus Pompeji zu retten, viel zu nahe an den Vulkan herangewagt.
In späterer Zeit ging das Kunstwerk verloren.
Das Buch von Plinius enthielt manches Rätsel und viele Legenden, auch die eines wunderbaren Kunstwerks. Durch die Erwähnung blieb die Skulpturengruppe des Laokoon im Gedächtnis. Es war einmal vor eintausendfünfhundert Jahren.
Frau Felber hat in der unteren Etage des Stalin-Hauses im ledertapezierten Kaminzimmer neben der Bibliothek ein Lesekabinett eingerichtet. In der Türfüllung zwischen den beiden Räumen klemmt neuerdings ein Brett.
Nach der Fortbildungswoche für Hochschulbibliothekare gilt eine einheitliche Bibliotheksordnung. Trennung der Bereiche.Die Neuen dürfen nicht mehr selbst in den Regalen stöbern. Frau Felber nimmt auf einem Vordruck Bestellungen an, sie ist gehalten, die registrierten Bücher zur Ausleihe bereitzustellen.
Mit einem Tauchsieder kocht sie für die Gäste im Kabinett türkischen Kaffee. Noch von Elis selbstgerösteten Bohnen, dem unerschöpflichen Bodenkammerfund. Gemahlenes Pulver in die Tasse, sprudelndes Wasser drauf. So bleibt der Geist des Ortes irgendwie erhalten. Man muss das Beste draus machen.
Im Lesekabinett lernt Fatme, die Mutter von Parsi, die deutsche Sprache. Ich trinke Tasse. Das ist falsch. Ich trinke Kaffee, das ist richtig. Ich trinke eine Tasse Kaffee, das ist auch richtig. Ich trinke nur eine Tasse. Auch das kann man sagen. Fatme trägt Sachen von Frau Felber. Hose mit Bügelfalte und Pullover. Über die Krankenkasse und Optiker Kufuss kann sie nun auch mit Hilfe einer Brille die Schrift erkennen.
Eli gießt Milch in den türkischen Kaffee.
Fatme wiegt den Kopf. Tee und Milch ja, Kaffee und Milch eigentlich nein. Eli würdigt Fatmes Haar. Ein Pferdeschwanz, glänzend wie schwarze Seide.
Ich wasche das Haar ohne Seife. Mit Tonerde.
Tonerde, essigsaure Tonerde, die nimmt mein Großvater Anton, wenn er nach einer Wandertour seine geschwollnen Füße badet.
Tonerde gut für Haar, sagt Fatme.
Wieder was gelernt, sagt Eli.
Ich auch, sagt Fatme.
Eli möchte wissen, ob es den Turm von Babel gibt. In Wirklichkeit. Frau Felber kann das besser erklären. Koldewey, der hat 1913 in Babylon die Überreste eines Zikkurats ausgegraben. Sie trägt ein Buch herbei. Schwarzweiße Fotos. Ein niedriges Lehmgemäuer, das ist der Turm. Auf der nächsten Seite das Ischtar-Tor. In Berlin zu besichtigen. Babylon in Berlin.
Hängende Gärten der Semiramis?
Fatme wirft den Pferdeschwanz. Das nein. Das ist nicht wahr. Fatme hat unten am See, wo die Soldaten gehen, von den wildwuchernden Sträuchern Beeren gesammelt. Sie zeigt die zerstochenen Hände. Schwarze Beeren.
Berberitzen?, sagt Eli.
Berberitzen. Gut mit Reis. Sauer, aber gesund.
Gemeine Dornen, wie Draht. Eli sagt ein neues Wort. Stacheldraht.
Bei uns in Babylon auch Stacheln. Überall in der Wüste Beeren und Stacheln. Rote Beeren oder schwarze Beeren. Alle gesund.
Jetzt reifen schon die roten Berberitzen. Das ist eine Verszeile aus einem Gedicht.
Frau Felber kennt das Gedicht. Rilke. Schon schlägt sie das
Buch der Pilgerschaft
auf. Jetzt reifen schon die roten Berberitzen, alternde Astern atmen schwach im Beet. Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht, wird immer warten und sich nie besitzen.
Die Berbera ist hier in unserem Klima ein Zierstrauch, sagt Eli. Es gibt
Weitere Kostenlose Bücher