Sepia
Arbeitstage, die Filmminuten, wie Königin Hermione, total zu Unrecht vom König schuldig gesprochen, sterben muss, doch nach vielen Jahren – zum Glück für alle – aus ihrem marmornen Gedenkstein wieder erwacht.
Dazu die kleinlaute Stimme des Königs Leontes:
– Und niemand verlache das Geschehen wie ein altes Märchen.
Sondern: ein jeder frag’ und höre, welche Rolle wir in dem weiten Raum der Zeit gespielt, seit wir zuerst uns trennten.
Und weil Leontes mit der Selbsterkenntnis und dem Klügerwerden nicht säumen will, fügt er rasch mit großer Geste hinzu:
Folgt mir schnell
.
Der Puppenführer dreht den komisch vergrämten Königskopf. Hebt den Fuß, schwingt das Bein zur ersten Phase des ersten eiligen Schrittes.
Und damit fängt die Geschichte wie auf einer Kreisbahn noch einmal von vorn an. Das
Wintermärchen
von William Shakespeare als Puppenfilm. Sizilien, ein Zimmer in Leontes’ Palast. Die Szene steht leer. Warten auf das Erscheinen des drolligen Personals. Warten, warten.
Jürgen wartet. Wenn das
Wintermärchen
abgedreht ist, darf Jürgen mit seinen Wäscherinnen auf das Spielfeld. Außer dem großen Schlüssel für die Schlossküche, das heißt für das Atelier,brauchen wir auch hier unseren Ausweis im Ausweis, das eingeklebte mit Stempeln und Unterschriften versehene Leporello, das uns berechtigt, direkt neben dem Eisernen Vorhang in einem Grenzgebiet zu studieren.
Bei Frau Felber liegt ein Buch für Eli bereit, es kommt aus den Beständen der Leipziger Zentralbibliothek, hochinteressant, leider mit kurzer Leihfrist. Es sind Aufsätze über den Franzosen Denon. Man erfährt, wie er, als Kunstexperte die Feldzüge Napoleons begleitend, sein Wesen trieb, liest, was ihm gefiel in Schlössern und Museen Europas. Wo er Bilder von den Wänden nahm, wo er Perlen, Gold, Porzellan einsammelte und Elfenbeintüren aus den Angeln hob. Hunderte kostbarster Türen hat er mitgenommen und mit dem roten Siegel des neuen Besitzers versehen. Sogar die Quadriga vom Brandenburger Tor in Berlin wurde auf sein Geheiß nach Paris verfrachtet. Die Alexanderschlacht von Altdorfer hat man aus der Münchner Galerie ins Schlossbadezimmer von Saint-Cloud umquartiert. Aber was ist daran befremdlich? Dass Monsieur Denon trotzdem von Goethe zu geselligem Gedankenaustausch empfangen, dass Denon zum Mitglied der Bayrischen Akademie gemacht wurde.
Dass die beherzten Dresdner schnell, bevor noch Denon, das Auge Napoleons, die Stadt erreicht hatte, ihre besten Sachen in der Festung Königstein versteckten.
Das traue ich den Dresdnern zu, sagt Eli, und auch Goethe traue ich das zu. Denon war ein Mann von Welt, gebildet, voll Esprit, ein sogenannter Schöngeist. Der war rumgekommen in Europa, der hatte ein Auge für besondere Schätze, für Dürer und Cranach zum Beispiel. Die hatten bis dahin zu Hause sowieso nur Plätze am Rande.
Hauptsache, du konntest mit dem Buch was anfangen, sagt Frau Felber, denn Fernleihe belastet den Schuletat. Schuberthatte den Leihantrag noch befürworten und eine Begründung schreiben müssen. Sogar der Dekan hatte sein Zeichen druntergesetzt. Antrag stattgegeben.
Frau Felber bedankt sich bei Eli für die schnelle Lektüre, Elis Pünktlichkeit erlaubt Frau Felber, über Nacht selbst noch das letzte Kapitel der Denon-Affaire zu lesen und in Leipzig um andere Bücher nachzusuchen. Fernleihe zu Studienzwecken: Boris Pasternak. Man muss es einfach mal versuchen. Der Dekan krakelt sein Zeichen. Einverstanden.
Bei so viel Aufwand darf Eli das Kapitel
Laokoon in Paris
keinesfalls streichen, es muss Gewicht haben und vor allem, es muss einmalig sein. Singulär. Eli hat noch Schuberts Empfehlung im Ohr, seinen dringenden Rat, vermeide die Parallelen. Denon ist Denon. Raubzug ist nicht gleich Raubzug.
Paris. 16. August 1803, es ist früh am Morgen.
Vom Louvre-Garten her flöten die Amseln. Ägyptische Akazien blühen. Durch die empfangsoffenen Portale weht ein Schattenwind. Lakaien in regloser Position.
Musée Napoléon, das ist der neue Name des Louvre.
Der Erste Konsul eilt, am Hals glänzt der letzte Orden, am Arm die Gemahlin Josephine. Beide zügigen Schritts treppan, voran, die Flure entlang, durch Flügeltüren.
In Siegerlaune, ausgeschlafen, rasch durch die Säle, an dem gesammelten Zierrat vorbei. Nur die Skulptur aus dem Vatikan will er sehen.
Den antiken Laokoon, ohne die plastischen Zutaten der Renaissance, die rechte Schulter lädiert, gelähmt.
Ein sterblicher Leib.
Das
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