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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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über hundert Arten. Siehe unten im Garten, im Grenzgestrüpp. Du hast sie ja schon entdeckt. Unsere Berberis darwinii.
    Fatme geht zum Gesangsunterricht ins Kulturhaus von Lokomotive Potsdam. Sie singt schon im Sonderchor mit. Weil ihre Stimme so schön ist. Stimme ist mein Bestes, sagt sie. Und Lachen kann ich auch gut.
    Die hängenden Gärten der Semiramis gehören zu den Weltwundern. Ich glaube an die Gärten, sagt Eli.
    Fatme probiert die deutschen Sätze: Ich glaube, ich glaube nicht. Alles ohne Himmel.
    Die Gärten hat es bestimmt gegeben. Es wäre schön, wenn sie gefunden würden, die Reste von den Gärten der Semiramis.
    Frau Felber gießt noch etwas heißes Wasser auf den Kaffeesatz. Schmeckt’s noch?
    Viel heiß, sagt Fatme.
     
    Das Lesekabinett ist unter der Hand zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Es ist gut, wenn Fatme kommt. Sie hat ihren weiten Rock gestiftet. Daraus hat die Mutter von Frau Felber fünf Röcke genäht. Auch Eli bekommt einen bunten Bordürenrock aus bestem Barchent, kühlt im Sommer, wärmt im Winter.
    Parsi weiß nichts von Gärten zwischen Euphrat und Tigris. Das ist ein Märchen. Sagt auch er.
    Ihr habt bei euch zu Hause nur noch nicht richtig danach gesucht.
    Da müssen erst die Deutschen oder Engländer kommen.
    Ach Quatsch.
    Tassen stehen auf dem Tisch, Fatmes Sachen liegen auf dem Stuhl. Eine kleine perlenbestickte Tasche, Wörterbuch, ein Notizbuch.
     
    Seit dem Frühjahr zieht sich ein grob planierter Fahrweg längs des Sees parallel zu Stacheldraht und Ufergesträuch. Undurchdringlich wuchernd: Fliederbüsche, Brombeeren, Berberitzen. Die Grenzer patrouillieren jetzt mit Motorrad oder Geländewagen, sie werfen immer noch Bonbonpapier und Zigarettenkippen ins Gras.
    Manchmal knirscht ein Befehl oder eine Anweisung aus einem Funkgerät, manchmal tönt abgehackte Musik aus einem Radiorecorder. Old Man River.
     
    Fatmes Verschwinden war lautlos geschehen. Man konnte es sich nur ungefähr erklären. Das Sekretariat der Schule wurde per Telefon von einem Sachverhalt unterrichtet.
    Eine weibliche Person ausländischer Herkunft sei von Grenzorganen bei der Verletzung der Grenzsicherungsanlagen sichergestellt worden.
    Berberitzen. Berberitzenreis. Der Duft der Berberitzen im Mai. Eli war neugierig, bald auch ziemlich besorgt auf Suche gegangen. Unser Stalin-Haus-Garten, das Pausengelände, lieblich frühsommerlich, mit deutlichen Zeichen des Verfalls, sogar die felsenfesten Stufen waren tiefer gerutscht, schief, von Laub und Erde bedeckt, von flinkem Efeu überwuchert. Unten auf dem Fahrstreifen konnte man nichts Besonderes erkennen. Neben den regenvollen Profilen des Jeeps frische Stiefelspuren und im Gestrüpp ein paar vorjährige schwarze Beeren und üppige orangefarbene, schwer duftende Blütentrauben. Ziemlich eindeutig Berberis darwinii. Das Leuchten der Natur. Vom Schöpfer gestiftet das Lied einer Nachtigall. Die sitzt pünktlich ab 4. Mai in den Fliederbüschen am See. Manchmal singt sie so laut, dass wir in der Umgebung keinen Schlaf finden können.
    Weil Parsi vor dem Abschluss steht, bekommt er drei Monate Aufschub, dann muss er sein Internatszimmer räumen. Mutter Fatme war nach Zwickau gebracht worden. In Zwickau existiert eine entsprechende Einrichtung. Ein Ausländerwohnheim.
    Parsi will später seine Mutter zu sich holen. Es sei kein Knast dort in Zwickau, bestimmt nicht.
    Mutmaßungen, Befürchtungen, Trost im Lesekabinett. Frau Felber kocht Kaffee.
    Parsi hofft auf einen Aufenthaltsschein, auf eine Wohnung, auf Arbeit als Fotograf, vorläufig in der Islamabteilung auf der Museumsinsel, bis er eines Tages als Kameramann zurückkehren wird in sein frommes Land. Die Konflikte häufen sich in der Welt. China baut einen Extrakommunismus. US-Kriegsschiffe stehen in einer Bucht vor der vietnamesischen Küste. Rüstungswettlauf in West und Ost. In Berlin wird eine Operninszenierungvor der Premiere verboten. Frau Felber gießt noch etwas heißes Wasser auf den schwarzen Grund. Sie hat die Sachen von Fatme in einem Bibliotheksschrank aufbewahrt. Für Parsi: Fatmes Perlentasche, das Wörterbuch, das kleine Notizbuch voll wunderlicher wellenartiger Schrift. Parsi kann uns sagen, was so ein offenes Schüsselchen mit einem Punkt darunter bedeutet. Das heißt Lenin, erklärt er. Parsi zeigt von rechts nach links, so muss man lesen. Die Schrift seiner Mutter. Das hat sie sich alles ausgedacht. Eine Geschichte. Am Ende, auf der letzten Seite, der Anfang, von rechts nach

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