Septemberblut
verstörend offenem Blick an.
»Ich kann dir deine Bestimmung nicht abnehmen«, sagte er bitter. »Ich würde dich gerne schützen, aber ich kann es nicht. Entweder ich breche dich, oder ich lasse dich ziehen. Ich entscheide mich für das Übel, das du dir selbst erwählt hast. Verlieren werde ich dich auf die eine oder andere Weise.«
»Ich werde wiederkommen, Curtis«, versprach ich und wusstedoch im gleichen Moment, dass mir die Vernichtung so gut wie sicher war.
Curtis’ Lippen bebten. Er wich meinem Blick aus und stützte sich auf seinen Schreibtisch. »Zweihundert Jahre! Zweihundert Jahre, und du wirfst sie einfach weg!«
Seit ich Brandon und Christina beim Erwachen zugesehen hatte, ahnte ich, was ein Meister empfand. Aber nach zweihundert Jahren?
»Geh jetzt, Julius«, presste Curtis hervor, ohne sich umzudrehen. »Ich sage dir, wenn es so weit ist. Nun geh, bevor etwas geschieht, was wir beide nicht wollen!«
Ich wusste, er meinte den Sarg.
Mit einem letzten Blick auf seinen bebenden Rücken verließ ich den Raum. Das hatte ich nicht gewollt.
Kapitel46
Gestank. Süß, modrig und so dick, dass er wie Schleim in der Kehle klebte.
Amber wurde endlich wieder wach. Sie riss die Augen auf, doch es blieb schwarz, und auch der Gestank war noch da. Sie würgte und unterdrückte einen Brechreiz.
Jemand war bei ihr im Raum, aber es war kein Vampir. Julius’ Blut hätte ihr verraten, wenn ein Unsterblicher in der Nähe gewesen wäre. Jemand hatte Amber gefesselt und auf einen Stuhl gesetzt. Es war dunkel, weil man ihr die Augen verbunden hatte.
Schritte.
Schwere Schritte, erst hinter ihr, dann blieb die Person vor ihr stehen.
Siehörte Stoff, der sich bewegte, und dann war der Gestank überwältigend. Amber beugte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite und erbrach einen dünnen Schwall. Sie rang nach Luft, doch jeder Atemzug brachte neuen Gestank.
»Das ist aber keine nette Begrüßung«, schnarrte die Stimme. Sie klang, als fehlten wichtige Teile, die eigentlich zum Sprechen nötig waren.
Amber richtete sich stocksteif auf. Vielleicht half es, wenn sie den Rücken an die Stuhllehne presste. Die eckigen Hölzer drückten ins Fleisch und lenkten von dem unsichtbaren Grauen vor ihr ab.
»Wer ist da?«, fragte sie und war überrascht, dass sie nicht stotterte.
»Erkennst du denn deinen Bruder nicht mehr?«
»Frederik?« Jetzt war es mit der erzwungenen Ruhe vorbei, und Ambers Stimme zitterte mit ihrem Körper um die Wette. »Das kann nicht sein. Bitte, nein!«
»Freust du dich denn nicht, dass ich hier bin?«
»Das bist nicht du!«, schrie Amber und wusste gleichzeitig, dass es genau das war, was vor ihr stand. Die Leiche ihres Bruders, ein Untoter, und er lachte, voll und kehlig, wie er es als Mensch nie getan hatte. Der Ton jagte ihr Schauer über den Rücken.
»Wenn du wirklich mein Bruder bist, dann hilf mir hier raus und nimm mir die verdammte Augenbinde ab!«
Amber bereute ihre Worte augenblicklich. Sie wollte Frederik nicht sehen, und um alles in der Welt wollte sie nicht, dass seine toten Hände sie berührten.
Zu spät.
Modrige Finger machten sich an ihrem Hinterkopf zu schaffen. Sie hielt die Luft an, doch der Gestank war zu heftig. Amber schluckte bittere Galle. Dann rutschte das Tuch von ihren Augen und sie war sprachlos vor Entsetzen.
Zuerstblendete sie das grelle Neonlicht der Deckenlampe, doch ihre Augen gewöhnten sich viel zu schnell daran, und aus einem bloßen Schemen wurde eine Person.
Vor ihr stand tatsächlich Frederik, oder zumindest das, was von ihm nach fast einem Monat noch übrig war. Im Mausoleum, als er Julius und Steven angegriffen hatte, hatte sie ihn nur als Schatten gesehen.
Der Frederik, der jetzt vor ihr stand, hatte aschgraue Haut, die mit Schwellungen und schwärzlichen Leichenflecken übersät war. Erstaunlich lebendige Augen schauten aus verdorrten Höhlen, die Gesichtshaut spannte sich wächsern über den Schädelknochen.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte Frederik, grinste und streckte die Hand nach ihr aus. Amber schrie, bis der Untote einen Schritt zurücktrat.
»Das bist nicht du! Frederik ist an dem Tag gestorben, als er aus dem Fenster gefallen ist. Du bist ein Sklave von Gordon.«
»Und du? Bist du etwa nicht Julius Lawheads Hure?«
Amber presste wütend die Lippen aufeinander.
»Du steigst mit dem Tod ins Bett, ich kann es riechen, ich kann sein Blut in deinen Adern riechen, Schwester! Es stinkt. Untotes, stinkendes Gift. Am liebsten
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