Septemberblut
und weckte meinen Körper. Die Muskeln zitterten. Vorsichtig beugte ich meine Finger.Der kleine machte die Bewegung noch nicht mit, aber er war wieder angewachsen.
Mein Oberschenkel schmerzte dumpf.
Hätte mich anstelle des Pfeils eine Pistolenkugel getroffen, wäre davon heute kaum noch etwas zu spüren. Aber der Pfeil war aus Holz gewesen.
Es gab unter Vampiren unzählige Theorien darüber, warum Holz auf uns eine solche Wirkung hatte. Die Alten führten es darauf zurück, dass Christi Kreuz aus Holz war. Aber ich sah mich nicht als Kind des Teufels, meistens nicht. Wenn ich allerdings meine schwarze Phase hatte, wenn ich in Depressionen versank, dann schimpfte ich mich noch Schlimmeres.
Stein kratzte über Stein. Ein Sarg wurde geöffnet. Ich hörte Curtis’ leise, für einen Menschen kaum wahrnehmbare Schritte.
Er räusperte sich. Mit einem elektronischen Knacken erwachte die Stereoanlage, und bald erklangen die sanften Töne einer Schubertsonate. Curtis legte Holz nach, und ich stellte mir vor, wie Asche und Glut aufstoben. Es knisterte.
Curtis kam zu mir und blieb stehen. Er strich mit der Hand über meinen Sarg, und ich bildete mir ein, seine Berührung auf der Haut spüren zu können.
»Julius«, flüsterte er.
Nur Amber hätte mich liebevoller wecken können.
Ich tastete mit den Fingern nach dem Hebel und fand ihn unter dem dicken Polster. Die Verriegelung schnappte beinahe geräuschlos auf. Curtis öffnete den Deckel für mich, und ich blickte in sein gütiges Gesicht.
»Guten Abend, mein Sohn.« Er kniete sich neben mich, und sein sorgender Blick glitt an meinem Körper auf und ab.
»Guten Abend, Curtis.«
»Es geht dir besser?«
»Ja.Ich spüre, dass es heilt.«
»Schön zu hören.«
Ich lächelte. »Du könntest mir einen Gefallen tun.«
»Was?«
»Lass mir ein schönes englisches Frühstück bringen. Spiegeleier mit Toast, Würstchen, Tee und frischen Orangensaft.«
Curtis’ Blick verklärte sich bei der Erinnerung an richtiges Essen. Dann bekam sein Mund einen bitteren Zug. Er schüttelte den Kopf. Wir würden nie wieder essen können.
Ich seufzte, setzte mich auf und strich über die Außenwand des Sargs. Meine Finger glitten über Perlmuttintarsien und Malerei und fanden im Lack nicht die geringste Unebenheit. Der Sarg selbst war etwas breiter als gewöhnlich und ließ mich die Enge kaum spüren.
»Ich schenke ihn dir«, sagte Curtis mit sanfter Stimme.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Ich habe ihn extra für dich anfertigen lassen. Er wartet schon eine ganze Weile auf dich.«
Ich war überrascht von seiner Großzügigkeit. »Danke, er ist wunderschön.«
Im Hintergrund sangen Schuberts traurige Geigen. »Weißt du noch, als wir bei dem Konzert waren, Curtis?«
Er stand auf. »Ja«, antwortete er knapp.
»Wann war das noch mal?«
»1839 im Gewandhaus in Leipzig. Wir haben Deutschland und Polen bereist. Du warst noch ganz grün hinter den Ohren.«
Ich lächelte bei dem Gedanken an die längst vergangene Zeit. Meine glücklichen Jahre. Alles war so neu und wunderbar gewesen, damals. Ich hatte London zum ersten Mal verlassen, und Curtis erfüllte mir den Wunsch einer Europareise. Staunend entdeckte ich all die Länder und Orte, in die ich mich in meinem sterblichen Leben geträumt hatte. Den Fingerauf dem Globus und die Augen verloren in Reiseromanen. Mit Curtis reiste ich wirklich.
Immer war mein Gefährte an meiner Seite, um mir die schönsten Plätze zu zeigen und die besten Jagdreviere, in denen wir uns gewissenlos satt tranken. Wir suchten uns unsere Beute in der besseren Gesellschaft, auf Bällen und bei Ausstellungen. Ich spürte keine Reue, wenn ich meine toten Opfer aus der Kutsche in einen Graben stieß. So war der Lauf der Welt.
Es war Natur.
»Ich wünschte, ich könnte noch einmal dorthin zurückkehren«, sagte ich sehnsuchtsvoll.
»Ich auch, aber Vergangenes ist vergangen und umkehren können wir nicht. Die Gegenwart ist es, die mir Sorgen bereitet. Heute Morgen ist etwas geschehen, hast du es auch gefühlt?«
Ich stand auf, spürte die Unruhe meines väterlichen Freundes. »Nein, nichts.«
Curtis ging auf und ab, seine blauen Augen lagen in dunklen Schatten. Ich wusste, dass ich ihn jetzt nicht stören durfte. Er schloss mich bewusst aus seinen Gedanken aus. Im Geiste sprach er bereits mit anderen Clanführern.
Ich verließ die unterirdischen Gemächer.
Als ich das Entrée erreichte, brachen Kathryn und Dava gerade zur Jagd auf. Sie würdigten mich
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