Septimus Heap 04 - Queste
Baumkrone emporgehoben wurden, schlug sie den Weg zum alten Steinbruch ein. Madam Agaric, ihre Vorgängerin, hatte den Wendronhexenzirkel noch von einer großen Höhle aus, hoch oben in den Wänden dieses Steinbruchs, geleitet. Die Herrschaft der alten Hexe hatte in einer kalten Vollmondwinternacht ein unerwartetes – und im Großen und Ganzen wenig bedauertes – Ende gefunden, als sie eine Idee zu lange brauchte, um einen Werwolf, der zwischen dem alten Gerümpel im hinteren Teil ihrer Höhle lauerte, mit einem Schnellgefrierzauber einzufrieren.
Eine der ersten Maßnahmen Morwennas als Hexenmutter war die Gründung des Sommerhexenzirkels auf dem Hügel gewesen. Damit beendete sie all die kleinen Streitereien und gegenseitigen Verhexungen, die in dem bedrückenden Steinbruch unter den Hexen überhandgenommen hatten. Morwenna kümmerte sich gern um alle Einzelheiten des Umzugs – und dazu gehörte auch, dass der alte Steinbruch bei ihrer Rückkehr am Tag der Herbsttagundnachtgleiche sicher und wohnlich war.
Sie nahm die Abkürzung zum alten Steinbruch, einen verborgenen Pfad, der durch das geheime Tal der Blausterntannen führte. Das waren Bäume, die sonst nirgendwo wuchsen. Der berauschende Duft ihres Harzes schläferte unvorbereitete Reisende ein und machte sie zu einer leichten Beute für die Blauschlangen, von denen das Geäst der Blausterntannen nur so wimmelte. Aber Morwenna war bestens vorbereitet. Sie zog ihr grün gepunktetes Taschentuch hervor, träufelte ein paar Tropfen Pfefferminzöl darüber und drückte es sich an die Nase. Am Ausgang des Tals blieb sie einen Augenblick am Grünen Weiher stehen, einem Teich, der sich tief in den steinigen Boden des Waldes gegraben hatte. Sie kniete nieder, tauchte die Hände in das kalte Wasser und trank. Dann füllte sie eine kleine Wasserflasche und setzte ihren Weg fort.
Gut eine halbe Stunde später stieg sie den steilen Felspfad hinab, der in den Alten Steinbruch führte, sprang flink von dem letzten Felsblock und landete auf dem glatten Steinbruchboden. Dort verharrte sie einen Moment, um Atem zu schöpfen, und blickte an den Felswänden hinauf, die vor ihr emporragten. Der Steinbruch hatte grob die Form eines Halbkreises. Er bestand zwar aus dem hellgelben Gestein, aus dem viele ältere Häuser in der Burg – und natürlich der Palast – gebaut waren, doch die baumhohen Wände waren merkwürdig dunkel, streifig und rußgeschwärzt von den Lagerfeuern der vielen Jahrhunderte, in denen die Wendronhexen hier gehaust hatten. Die Wände waren auch Heimat einer örtlichen Waldschleimflechte, die eine hässliche grünschwarze Farbe hatte und einen scheußlichen Geruch verströmte, wenn sie feucht wurde. Noch dunkler nahmen sich die Eingänge der verschiedenen Höhlen aus, die Steinbrucharbeiter vor vielen Jahren freigelegt hatten. Zu jeder Höhle führten Stufen hinauf, die von den Hexen mühsam in den Fels gehauen worden waren, als sie den Steinbruch übernahmen. In diesen Höhlen, die Schutz vor den räuberischen Nachtgeschöpfen des Waldes boten – jedenfalls meistens –, überwinterten die Wendronhexen.
Heute wollte Morwenna die unteren Höhlen kontrollieren und sichern. Es war nämlich kein Vergnügen, wenn man an einem nasskalten Herbsttag, schwer beladen mit schmutzigen Tipis und feuchtem Bettzeug, in den Steinbruch zurückkehrte und feststellen musste, dass ein Rudel Waldwolverinen in die Höhlen eingezogen war – und auch gewillt war, das neue Zuhause zu verteidigen.
Das Einzige, was Morwenna wirklich am Alten Steinbruch gefiel, war, dass ein Teil des Geländes hier flach und eben war wie nur an ganz wenigen Stellen im Wald. Sie schritt zielstrebig über den gelben Steinboden. Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, dass alles sauber und ordentlich aussah und nichts draußen liegen gelassen worden war – oder wenn doch, so war es bereits gefressen worden, was ihr die Mühe ersparte, es wegzuräumen. Sie näherte sich gerade den blauschwarzen Schatten am Fuß der Felswand, als sich in einer großen Höhle etwas bewegte. Sie blieb abrupt stehen. Langsam, ganz langsam legte sie sich den grünen Umhang um, sodass die gesprenkelte Seite nach außen zeigte und sie mit den Schatten verschmelzen ließ. Und dann wartete sie, wobei sie leise den Hexenspruch murmelte: »Es mag noch so leuchten, dein Augenlicht, mich siehst du nicht ... mich siehst du nicht ...«
Sie selbst konnte freilich alles sehen. Ihre stechenden blauen Augen begannen hell zu leuchten, als
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