Septimus Heap 05 - Syren
antwortete Septimus jetzt auf Syrahs Frage. »Ich kann einen Gedankenschirm aufbauen.«
»Gut«, sagte sie, tauchte wie ein Tier, das in seine Höhle schlüpft, in den Wald ein und verschwand. Septimus ging ihr nach. Nach dem hellen Sonnenschein draußen sah er in dem Halbdunkel vorübergehend kaum etwas. Nur mit Mühe konnte er Syrah folgen. Die Bäume waren zwar windschief und klein, standen aber dicht beisammen und trugen kleine, harte fleischige Blätter, an denen er hängen blieb und sich schnitt, wenn er daran vorbeistrich. Außerdem waren die Bäume in Korkenzieherform gewachsen und reckten sich in unvermutete Richtungen, als wollten sie ihm absichtlich ein Bein stellen. Syrah dagegen schlängelte sich flink an ihnen vorbei. Sie kam Septimus wie ein kleines Reh vor, das mal hierhin, mal dorthin sprang und einem Weg folgte, den niemand sonst kannte.
Am anderen Ende des Wäldchens blieb Syrah stehen und wartete auf Septimus. Wie sie so dastand und sich als Silhouette gegen das helle Sonnenlicht abhob, fiel Septimus auf, wie extrem mager sie war. Die zerschlissene Uniform hing an ihr wie Lumpen an einer Vogelscheuche, und ihre schmalen braunen Handgelenke und Fußknöchel ragten wie knorrige Stecken unter ihren ausgefransten Ärmeln und Hosenbeinen hervor. Sie erinnerte ihn an jene Kameraden bei der Jungarmee, die nicht essen wollten – in jedem Zug hatte es ein oder zwei davon gegeben, aber sie hatten nie lange durchgehalten. Wie, so fragte er sich, hatte Syrah auf dieser Insel gelebt?
Am Saum des Wäldchens stieß er zu ihr. Vor ihnen ragte eine breite baumlose Klippe in die See hinaus wie der Bug eines Schiffes. Dahinter eröffnete sich ein großartiges Meerpanorama, nur unterbrochen von einem gedrungenen runden Backsteinturm, um dessen äußerste Spitze eine Reihe kleiner Fenster lief. Syrah fasste Septimus am Arm, um zu verhindern, dass er aus dem Schatten der Bäume hervortrat. Sie deutete auf den Turm und flüsterte: »Das ist der Kieker. Dort wohnt die Sirene.« Syrah machte eine Pause, holte tief Luft und fuhr dann fort: »Die Sirene ist ein besitzergreifender Geist. Ich bin von ihr besessen.«
Auf einmal begriff Septimus, was auf dem Buchdeckel stand. Begleitet von einem schlechten Gewissen fühlte er eine Welle des Glücks in sich aufsteigen – er war noch in seiner eigenen Zeit. Er musste daran denken, was Dan Forrest in seiner Einführenden Abhandlung über Besessenheit schrieb: »Der Fluch des Besessenen ist es, viele Hundert Lebenszeiten lang zu existieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies ist eine Form der Unsterblichkeit, die sich niemand wünscht.«
Unwillkürlich trat er einen Schritt von Syrah zurück – Marcia hatte ihn immer davor gewarnt, einem besessenen Menschen zu nahe zu kommen.
Syrah sah gekränkt aus. »Keine Bange«, sagte sie. »Du kannst nicht befallen werden. Ich bin nur im Kieker besessen. Wie ich schon sagte, draußen bin ich Syrah.«
»Warum gehst du dann überhaupt in den Kieker?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn die Sirene mich ruft, muss ich kommen. Außerdem ...« Sie gähnte. »Oh, entschuldige, ich bin so müde. Ich bleibe immer so lange wie möglich draußen, aber schlafen kann ich nur im Kieker, sonst nirgends.«
Jetzt erinnerte sich Septimus an etwas, was Dan Forrest in seiner Abhandlung nicht ansprach – er hatte es in einer zerknitterten Schriftrolle gelesen, die er ganz hinten in der Schublade des Schreibpults in der Pyramiden-Bibliothek gefunden hatte. Geschrieben hatte sie ein junger Außergewöhnlicher Zauberer, der von einem bösartigen Geist besessen worden war, der in einer Hütte am Finsterbach hauste. Dem Zauberer war es gelungen, in den Zaubererturm zurückzukehren und sein Testament zu schreiben, das mit den Worten begann: »Vier lange Tage ist es nun her, dass ich meinem Besitzergeist davongelaufen bin. Ich habe beschlossen, nicht zurückzugehen, und ich weiß, dass mich bald der letzte Schlaf überkommen wird.« Darauf folgten eine Schilderung dessen, was ihm widerfahren war, verbunden mit ausführlichen Anweisungen für seinen Nachfolger, eine Aufstellung seiner Hinterlassenschaften und ein Abschiedsbrief an einen Menschen, den er »seine einzige wahre Liebe« nannte. Der Brief endete in einem langen Tintenstrich, als ihm die Feder aus der Hand fiel und er sich schließlich dem Schlaf ergab.
Bestürzt hatte Septimus die Schriftrolle Marcia gezeigt, und sie hatte ihm erklärt: Wenn jemand, der von einem ortsgebundenen Geist besessen
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