Septimus Heap 06 - Darke
»Stimmt«, bestätigte sie. »Er klemmt.«
Die Buchbringerin machte ein ausgesprochen misstrauisches Gesicht.
»Möchten Sie mal probieren?«, fragte Jenna und hielt ihr den Schlüssel hin.
Die Buchbringerin schnappte ihn sich, stieß ihn ins Schloss und drehte mit aller Macht. Jenna sah, dass sie sich anstrengte, und konnte nur hoffen, das Silas’ Zauber standhielt. Und das tat er. Nach ausgiebigem, kräftigem Rütteln und Stochern im Schloss gab die Buchbringerin den Schlüssel widerwillig zurück.
»Na schön«, seufzte sie. »Der Ruheraum wird es auch tun.«
Jenna verkniff sich die Frage, warum sie das nicht gleich gesagt habe. Sie glaubte die Antwort bereits zu kennen. Die Buchbringerin wollte sich im Glanz des Thronsaals sonnen. In Königin Etheldreddas Palast war Jenna vielen Menschen wie ihr begegnet, und damals hatte sie angefangen zu lernen, wie sie mit ihnen umgehen musste.
Der Ruheraum war ursprünglich als Privatgemach der Königin gedacht. Hier konnte sie ihre Festkleidung anlegen, und hierher konnte sie sich aus dem Thronsaal zurückziehen, wenn ihr danach war. Der Raum war schmutzig und dunkel, gefiel Jenna aber so gut, dass sie ihn häufig als ruhiges Plätzchen zum Arbeiten nutzte. Sie führte die Buchbringerin in den Raum.
Silas entschuldigte sich an der Tür und verschwand, und diesmal hatte Jenna nichts dagegen.
Der Ruheraum war lang und schmal und hatte nur ein einziges großes Fenster. Es befand sich an der hinteren Wand und ging auf die Zaubererallee hinaus. Auf der rechten Seite verhüllte ein fadenscheiniger Vorhang eine Tür, die normalerweise in den Thronsaal führte, momentan aber unpassierbar war, da Jenna ein breites Brett davorgenagelt hatte. Im Raum war es eisig kalt, aber in dem kleinen Kamin lagen bereits Holzscheite aufgeschichtet. Jenna nahm die Zunderbüchse vom Kaminsims und hielt eine gelbe Flamme an das trockene Moos unter dem Holz. Mithilfe der Flamme zündete sie auch die Kerzen an, und bald erstrahlte der Raum in einem gelben Licht und wirkte viel wärmer, als er tatsächlich war.
Die Buchbringerin setzte sich an ein kleines Schreibpult am Fenster. Aus einer Reihe nicht zusammenpassender, aber bequemer Sessel suchte sich Jenna den aus, in den sie sich am liebsten zum Lesen kuschelte – einen abgewetzten in Rot und Gold, mit einem Haufen Kissen und einem Wackelfuß –, und schob ihn vors Feuer.
Es wurden lange und ermüdende drei Stunden, doch als Jenna danach an der Palasttür stand und der Buchbringerin nachsah, wie sie in dem kalten Wind, der vom Fluss heraufwehte, mit wehenden Bändern die Zufahrt hinunterging, hielt sie ein kleines rotes Buch mit dem Titel Die Königinnenregeln in der Hand.
Jenna kehrte geradewegs in den Ruheraum zurück. Erleichtert, dass sie ihn nun wieder ganz für sich hatte, schloss sie die Tür, rückte den Sessel noch ein Stück näher ans Feuer und betrachtete das kleine rote, in Leder gebundene Buch. Es was so zart. Der blassrote Einband fühlte sich ganz weich an, und sie bekam eine Gänsehaut, als ihr bewusst wurde, dass es von den Fingern ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer vielen Urgroßmütter so abgenutzt und abgegriffen war. Die goldumrandeten Seiten waren aus feinem Papier, das so dünn und durchscheinend war, dass man es nur einseitig bedruckt hatte. Die Schrift war sehr klein und verschnörkelt, was auch der Grund dafür war, weshalb die Überbringerin des Buches so lange gebraucht hatte, um ihr den gesamten Inhalt vorzulesen und zu erläutern. Nun aber, da Jenna endlich allein mit dem Buch war, schlug sie die Seite auf, die sie unbedingt noch einmal lesen wollte:
Protokoll: Zaubererturm
(Notabene: Ersetze, wenn zutreffend, P-i-W durch Königin)
Nach ihrer dreistündigen Unterweisung wusste Jenna, dass »P-i-W« Prinzessin im Wartestand bedeutete. Zwei Paragrafen interessierten sie besonders.
PARAGRAF I: DAS RECHT AUF AUSKUNFT
Die P-i-W hat das Recht, über alles unterrichtet werden, was das Wohl und Wehe von Burg und Palast angeht. Der Außergewöhnliche Zauberer (oder in dessen Abwesenheit der Außergewöhnliche Lehrling) ist verpflichtet, alle Fragen der P-i-W umgehend, umfassend und wahrheitsgemäß zu beantworten.
Jenna grinste. Das hörte sich gut an, aber sie hätte wetten können, dass Marcia anderer Ansicht war. Den zweiten Paragrafen las sie noch gründlicher.
PARAGRAF II: SICHERHEIT DES PALASTES
Es obliegt der P-i-W zu beurteilen, ob eine Angelegenheit die Sicherheit des Palastes betrifft.
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