Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
lächeln. Es war eine stillschweigende Vereinbarung unter uns: Wir gaben uns Mühe. »Ja, tatsächlich, ich bin nach Hause gekommen, um etwas zu holen. Aus, ähm, meinem Zimmer. Ich habe es vergessen, aber ich brauche es.«
Anne-Marie nickte eifrig, ja, ja, gut , die schreckliche Stieftochter würde bald wieder verschwinden. »Geh nach oben, bitte. Es ist ja immer noch dein Zuhause.«
Ich ging wieder nach oben und war immer noch etwas benommen. Was sollte ich jetzt als Nächstes tun? Zum Glück hatte ich meine Geldbörse mitgenommen und ich konnte mir irgendwo ein Gebäck kaufen oder … mein Herz fing an zu klopfen. Ich könnte zu Orma gehen! Er hatte ja darauf gehofft, dass ich ihn heute besuchen würde. Das war ein guter Plan. Ich würde Orma überraschen, ehe er für immer wegging.
Den letzten Gedanken schob ich rasch beiseite.
Ich verstaute das scharlachrote Kleid sorgfältig in einer Tasche und richtete das Bett her. Mir gelang es nie, die Bettdecke so aufzuschütteln wie Anne-Marie; sie würde sofort merken, dass ich hier geschlafen hatte. Und wenn schon. Die Erklärung würde ich Papa überlassen.
Von Anne-Marie brauchte ich mich nicht zu verabschieden. Sie wusste, wer ich war, und es schien sie immer ein wenig zu beruhigen, wenn ich mich auch tatsächlich so benahm wie ein gedankenloser Saar. Ich öffnete die Vordertür und wollte gerade in die verschneite Stadt aufbrechen, als ich das Trippeln von Pantoffeln vernahm. Ich drehte mich um und stand meinen Halbschwestern gegenüber. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«, fragte Jeanne besorgt und zog die blassen Augenbrauen hoch. »Papa hat gesagt, wir sollen dir dies geben.«
Tessie hielt eine lange, schmale Schachtel in der einen Hand, einen zusammengefalteten Brief in der anderen.
»Danke.« Ich steckte die Schachtel und den Brief in meine Tasche und nahm mir vor, beides anzuschauen, wenn ich alleine war.
Sie kauten in derselben Weise auf der Unterlippe, obwohl sie gar keine eineiigen Zwillinge waren. Jeannes Haar hatte die Farbe von Kleehonig, Tessie hatte die dunklen Locken von Papa, genau wie ich. Ich sagte: »In ein paar Monaten werdet ihr elf Jahre alt. Möchtet ihr an eurem Geburtstag zu mir kommen und euch den Palast anschauen? Natürlich nur, wenn eure Mutter nichts dagegen hat. Sie kann euch ja begleiten.«
Sie nickten, in meiner Gegenwart waren sie immer ein wenig verlegen.
»Dann abgemacht. Ich werde alles vorbereiten. Vielleicht begegnet ihr auch der Prinzessin.« Sie gaben keine Antwort und mir fiel auch nichts mehr ein, was ich ihnen hätte sagen können. Ich hatte mir zumindest Mühe gegeben. Ich winkte ihnen halbherzig zum Abschied und floh durch die verschneiten Straßen zu meinem Onkel.
Orma bewohnte ein einzelnes Zimmer, das sich über der Werkstatt eines Kartenzeichners befand; von der Wohnung meines Vaters aus lag sie näher als Sankt Ida, deshalb schaute ich zuerst dort vorbei. Basind öffnete die Tür, konnte mir aber nicht sagen, wohin mein Onkel gegangen war. »Wenn ich es wüsste, wäre ich dort, wo er ist«, erklärte er mir. Seine Stimme war so unangenehm wie raue Sandkörner in Strümpfen. Er starrte in die Luft, kaute auf einem Nietnagel herum, während ich eine Nachricht für Orma schrieb, wobei ich allerdings so meine Zweifel hatte, ob er sie auch wirklich erhalten würde.
Die Angst beschleunigte meine Schritte.
In den Straßen wimmelte es von Leuten, die gekommen waren, um sich die Goldenen Spiele anzuschauen. Ich dachte daran, den Fluss entlangzugehen, denn für gewöhnlich traf man dort nicht ganz so viele Menschen an, aber dazu war ich nicht warm genug angezogen. Das Gewimmle in den Straßen hielt zumindest den Wind ein wenig ab. An jeder Straßenecke standen von den Besuchern der Spiele umringt große Kohlebecken. Auch ich wärmte mich daran auf, nachdem ich mich nahe genug herangedrängt hatte.
Ich hatte nicht vor, die Spiele anzuschauen, aber es war schwer, nicht bei dem riesigen feuerspeienden Kopf von Sankt Vitt, stehen zu bleiben, der vor dem Lagerhaus der Glasbläsergilde aufgebaut worden war. Eine etwa drei Meter lange Flammenzunge ragte daraus hervor. Die Augenbrauen von Sankt Vitt fingen Feuer, was zwar eigentlich nicht vorgesehen war, aber beim Himmel, damit sah er noch verwegener aus!
»Sankt Vitts Haupt spuckt und schnaubt!«, rief die Menge.
In seinem richtigen Leben hatte Sankt Vitt natürlich keine solchen Drachenkunststückchen vollbracht. Sie sollten an sein aufbrausendes Temperament
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