Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
nachzuholen …«
Glisselda sprang wütend auf. »Das wollten wir ja gerade vermeiden.«
»Genau«, stimmte Millie zu und stellte einen Wasserkessel auf.
»Serafina, ich bin entsetzt, dass es so weit gekommen ist«, sagte die Prinzessin. »Meine ursprüngliche Idee –«
»Und die Lucians«, ergänzte Millie, die es sich offenbar erlauben durfte, die zweite Thronfolgerin zu unterbrechen.
Glisselda warf ihr einen gereizten Blick zu. »Ja, und einer dieser porphyrischen Philosophen hat auch noch seinen Teil dazu beigetragen, wenn du unbedingt so pingelig sein willst. Meine Idee war es, dass wir uns alle stechen lassen sollten, angefangen von Großmutter bis hin zum untersten Küchenjungen, vornehme und gewöhnliche Leute, Menschen und Drachen. Das wäre anständig gewesen.
Aber einige der vornehmen Herrschaften und Würdenträger wehrten sich mit Händen und Füßen. Man muss für uns eine Ausnahme machen! Wir sind Leute von Rang! Letztlich mussten sich nur Höflinge, die noch keine zwei Jahre am Hof sind, dem Test unterziehen sowie alle normalen Bürger. Und wozu hat es geführt? Zu rücksichtsloser Selbstjustiz! Und dieser Bastard von Apsig kommt wieder einmal ungeschoren davon.«
Glisselda schimpfte weiter, aber ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren, was sie sagte. Das Zimmer schwankte wie ein Schiff auf hoher See. Jetzt war ich ganz sicher betrunken. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf könne jeden Moment herunterfallen, weil er viel zu schwer war. Jemand sprach, es dauerte Minuten, bis mir die Worte ins Bewusstsein drangen: »… wir sollten ihr zumindest dieses blutige Gewand ausziehen, ehe Dame Okra zurückkommt.«
Nein, nein, sagte ich, jedenfalls hatte ich es vor. Ich konnte auf eine merkwürdige Art nicht mehr unterscheiden, was ich wollte und was ich tat; meine Urteilskraft schien sich für den Rest der Nacht vollends verabschiedet zu haben. In Millies Zimmer stand eine große spanische Wand, die mit Trauerweiden und Wasserlilien bemalt war. Ich ließ mich überreden, dahinter zu verschwinden. »Gut, aber ich will nur das Oberkleid wechseln …« Meine Worte blubberten über den Paravent wie inhaltsleere Luftblasen.
»Du hast entsetzlich geblutet«, rief Millie. »Sicher ist alles voller Flecken.«
»Niemand darf sehen, was drunter ist …«, murmelte ich undeutlich.
Glisselda streckte den Kopf um die Ecke des lackierten Schirms; ich schnappte erschrocken nach Luft und wäre beinahe umgekippt, obwohl ich noch völlig angezogen war. »Ich werde es gleich wissen«, zwitscherte sie. »Millie, Ober- und Unterkleider.«
Millie brachte ein Unterhemd aus dem weichsten, weißesten Leinen, das man sich vorstellen kann. Der Wunsch, es auf der Haut zu spüren, nebelte meinen Verstand ein. Ich begann mich auszuziehen. Auf der anderen Seite des Zimmers stritten sich die Mädchen wegen der Farbe meines Oberkleids; sie meiner Gesichts- und Haarfarbe anzupassen, erforderte anscheinend Kenntnisse in höherer Mathematik. Ich kicherte und erklärte ihnen, wie man eine quadratische Hautfarbengleichung löste, obwohl ich selbst nicht wusste, was das war.
Ich hatte gerade alle meine Kleider ausgezogen und meinen klaren Verstand zusammen mit ihnen abgestreift, als Glisselda um die Ecke spähte und sagte: »Halte mal dieses scharlachfarbene Kleid vor dich und lass uns sehen – oh!«
Ihr Schrei katapultierte mich in die raue Wirklichkeit zurück. Ich drehte mich schnell um und hielt Millies Unterkleid wie einen Schild vor mich, aber sie war schon wieder weg. Das Zimmer fing an sich zu drehen. Sie hatte das silberne Schuppenband auf meinem Rücken gesehen. Ich schlug die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien.
Sie flüsterten miteinander, Glisseldas Stimme überschlug sich vor Aufregung, Millies Stimme war ruhig und bestimmt. Ich zog Millies Unterhemd über den Kopf. In meiner Hast zerriss ich beinahe eine Naht an der Schulter, ich wusste nicht mehr, wo meine Gliedmaßen waren und wie ich sie bewegen sollte. Ich kauerte mich auf den Fußboden, knüllte meine eigenen Kleidungsstücke zusammen und presste sie vor den Mund, weil ich so heftig atmen musste. Ängstlich wartete ich darauf, dass eine von beiden etwas sagte.
»Fina?«, fragte Prinzessin Glisselda endlich und rüttelte an der Trennwand wie an einer Tür. »Was ist los? Hast du ein Gelübde abgelegt?«
Mein umnebeltes Hirn konnte sich auf diese Frage keinen Reim machen. Was war ein Gelübde? Ich wollte schon Nein sagen, konnte mich jedoch
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