Serafinas später Sieg
Antonio, ich bin unbewaffnet. Und Hélion hier ist erst zwölf Jahre alt – von ihm droht ebenfalls keine Gefahr.. Ich habe nicht die Absicht, Mr. Marlowe etwas zu tun – ich möchte ihn lediglich besuchen.«
»Es geht ihm sehr schlecht.« Antonios Blick hatte sich an Constanzas entstellender Narbe festgesaugt. »Und er ist nicht hier.«
»Aber doch wohl noch in Livorno?«
Der Diener senkte den Blick und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
»Dann bringe mich bitte zu ihm, Antonio.«
»Das ist kein Ort für eine Dame, Signora«, protestierte er.
»Ich bin nicht empfindlich, das versichere ich dir«, erklärte sie entschieden. »Laß uns gehen.«
In den Gassen, durch die Antonio sie führte, türmte sich Unrat. Mehrmals rutschte Constanza mit ihren hohen Plateauschuhen aus und wäre hingefallen, wenn Hélion und der Diener sie nicht in letzter Sekunde festgehalten hätten. Sie hielt sich ein zusammengefaltetes Taschentuch vor die Nase, das die üblen Gerüche jedoch nur mangelhaft dämpfte.
Das Haus, zu dem Antonio sie brachte, lag an einem Platz, auf dem sich zerlumpte Kinder und eine Schweinefamilie tummelten. In einem der oberen Stockwerke sang jemand. An zwischen Fenstern gespannten Seilen hing Wäsche. Constanza raffte ihre Röcke und folgte Antonio die Treppe hinauf.
Als er die Tür öffnete, konnte sie zunächst nichts erkennen. Die Fensterläden waren geschlossen, und es brannte keine Kerze. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie die undeutlichen Umrisse eines Menschen zwischen zerwühlten Laken auf einer Pritsche. Ohne sich um Antonios Proteste zu kümmern, stieß sie die Läden auf. Dann kniete sie sich neben das Bett. Thomas Marlowes blaue Augen waren geschlossen, Schweiß bedeckte sein hochrotes Gesicht. Röchelnd warf er den Kopf hin und her und zerrte an dem durchgeschwitzten Kissen. Tief bestürzt wandte Constanza sich an Antonio: »Was ist denn geschehen, um Himmels willen?«
»Signor Marlowe war mit Signor Whitlocks Frau im Bett, und deshalb versuchte Mr. Whitlock, ihn umzubringen.« Es war ihm offenbar fast gelungen!
»Mr. Whitlock ist mit Mr. Keane nach Scanderoon gesegelt. Wenn Mr. Marlowe bei seiner Rückkehr noch am Leben ist, wird Mr. Whitlock alles Geld zurückverlangen, das Mr. Keane Mr. Marlowe geliehen hat, oder Feuerholz aus der Kingfisher machen lassen.«
Wieder einmal brachte es Constanza in Wut, zu welchen Torheiten Männer sich hinreißen ließen. Doch jetzt war keine Zeit für Empörung, es gab Wichtigeres zu tun. Sie schickte Hélion zum Wasserholen und trug Antonio auf, Verbandsstoff zu besorgen. Dann schälte sie den Kranken aus seinen klebrigen, stinkenden Kleidern und blutdurchtränkten Verbänden – und faßte den Entschluß, Thomas Marlowe mit nach Pisa zu nehmen.
Am Neujahrstag ritt Serafina, begleitet von Amadeo, an der ligurischen Küste entlang. Das Wetter versprach schön zu werden: Der Himmel war klar, die Morgendämmerung stieg korallenrosa am Horizont empor. Jacopo ging es seit kurzem etwas besser, und Serafina hatte ihn überreden können, für einen Tag auf ihre Gesellschaft zu verzichten. Tief atmete sie die beißend kalte Luft ein und genoß den Wind auf ihrem Gesicht. Ihr Mann hatte das Haus seit über einem Monat nicht mehr verlassen. Nachts lag er in seinem Himmelbett und tagsüber auf dem Sofa im Salon. Der Husten war nicht mehr ganz so schlimm, doch Serafina hatte den Verdacht, daß die Besserung nur vorübergehend wäre. Sie empfand diesen Tag als Geschenk. Zu Hause rief Jacopos quengelnde Stimme hundertmal am Tag nach ihr, gleichgültig, ob sie im Kontor war, mit einem Kunden sprach oder Brot backte. Es graute ihr schon davor, den Preis für den heutigen Ausflug zu bezahlen: Stundenlang würde sie ihren Mann umschmeicheln und liebkosen müssen, um ihn für ihre Abwesenheit zu entschädigen. Als Kara Alis Sklavin hatte sie mehr Freiheit besessen. Dort hatte man lediglich von ihr verlangt, daß sie ihre Küchenarbeit ordentlich machte und die Diktate des Arztes in korrekter Form zu Papier brachte. Manchmal war sie nahe daran, an ihrem Leben zu verzweifeln. Doch jetzt, als der Wind an ihren Haaren zerrte, fühlte sie sich aller Fesseln ledig und führte sich vor Augen, was sie in den letzten sechs Monaten erreicht hatte. Seidenballen türmten sich in einem Lagerhaus in Livorno; Spitze, Bänder, Borten und andere Kurzwaren lagerten in Pisa. Die Firma Capriani besaß dank ihrer Bemühungen einen kleinen,
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